Zu LF 4 Freitod als Lebenskunst

In der Philosphie der neueren Zeit können wir zwei Dimensionen der Suche nach einer Lebenskunst ausmachen:

  1. Lebenskunst als Anpassung an Norm und Konvention
  2. Lebenskunst als Widerstand gegen Norm und Konvention

Für Letztere setzt sich vor allem der Philosoph Michel Foucault ein.

Für Foucault heißt das , die Phänomenologie der alltäglichen Lebenswelt zu erforschen und zu einer möglichen Lebenskunst zuzuspitzen. Dabei geht es ihm um das Erkunden von Möglichkeiten zur Veränderung des Lebens im Alltag. Im Zentrum stehen dabei die Praktiken zur Transformation des Individuums, die Anstrengung, andere Lebensweisen zu erfinden und zu erproben.
Foucault plädiert dafür, die Philosophie der Lebenskunst bei den antiken Philosophen (Stoa, Epikurismus, Kynismus) wieder zu entdecken und an moderne Bewegungen der Kunst (Dada, Fluxus, Performance) anzuschließen. Es geht um den Charakter der Reflexivität. Es ist die Lebenskunst, die das unreflektierte Dasein zu erschüttern und zur Reflexion seiner selbst zu bringen vermag.

Foucault geht es im Ganzen um die Produktion einer Subjektivität, die eine Selbstpraktik, eine Praxis der Freiheit ist, als die Formung und Transformation seiner selbst gegen Normen und Konventionen, die genau diese Transformation verhindern. Im weitesten Sinne plädiert er für eine Aesthetik der Existenz, die
die Sorge um sich und die anderen in den Mittelpunkt der praktischen Philosophie stellt, eine Haltung, die das Leben als reflektierte Selbstgestaltung versteht und somit das eigene Leben zu einem Kunstwerk werden lässt.

In seinen letzten Vorlesungen (Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der Anderen, Bd. I 2010 und Bd. II 2012; Aesthetik der Existenz 2007) hat Foucault diese Haltung besonders in der Erforschung der Haltung der Parrhesia analysiert. Dem antiken Herrscher, dem es für das Wohlergehen der Familie, des Oikos, des Volkes oder des Staates zu tun war, war aufgegeben, sich selbst soweit zu entwickeln, dass er das Wohl der anderen angemessen im Blick hatte. Um sich selbst soweit entwickeln zu können, musste er sich mit Menschen umgeben, die ebenso dachten und handeln konnten, ihn also auch kritisch beraten konnten. Das konnte nur gelingen, wenn der Untergebene allen Risiken einer späteren Verurteilung zum Trotz die Wahrheit sprechen konnte. Parrhesia war also ein Handeln, bei dem der betreffende gegenüber einem Höher gestellten

  1. Genau das sagte, was er selbst tatsächlich für richtig hielt.
  2. Den Mut hatte, es auch bei vollem Risiko einer späteren Verurteilung durch den Herrscher zu sagen (den eignen Tod eingeschlossen)
  3. Jede Art von Lüge, Scheichelei, Überredung oder Beweis ablehnte,
  4. Dasselbe auch öffentlich bekundete.

Für Foucault galt, dass diese Haltung sich in mehreren Ebenen durchsetzen musste:

  • politisch
  • gerichtlich
  • moralisch
  • philosophisch, letztendlich als philosophischeb Lebensform insgesamt.

Es ist klar, dass dies nur einem Subjekt gelingt, welches sich im höchsten Maß frei entwickelt hat. Dazu gehört ein Leben, welches sich jenseits gängelnder Normen und Konventionen entfaltet hat, unter Einübung aller notwendigen Praktiken
der Selbstformung. Dazu bot die antike Philosphie die entsprechenden Exercitien, mit der Forderung, diese ein Leben lang u üben.
Als die wichtigsten Übungsbereiche galten:

  1. Bekämpfung der Leidenschaften,
  2. im Bereich der Natur (Physis) und er Gemeinschaft mit anderen rational handeln,
  3. Irrtümer vermeiden und sich nur im Bereich des Universal-Objektiven bewegen.
    (Vgl. Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, 1991)

Insofern war in der Antike Philosophie auch immer Ethik, aber dies im Sinne eines Ethos, einer Weise zu sein und sich zu verhalten. „Damit jedoch diese Praxis der Freiheit in einem Ethos Gestalt annehmen kann, die als gut, schön, ehrenhaft, achtbar und erinnerungswürdig erscheint, bedarf es eingehender Arbeit des Selbst an sich selbst“ (Aesthetik der Existenz, S. 260)

Zu dieser Arbeit gehört für Foucault auch immer die Einübung in die Tatsache, dass der Tod zum Leben gehört. Wenn das Sterben noch ein Akt des Lebens ist, dann gehört auch die Kunst des Sterbens wieder zu einem konstituierenden Bestandteil der Philosophie der Lebenskunst. Ebenso, wie das Leben zu einem Kunstwerk gemacht werden muss, so muss auch aus dem Tod ein Werk gemacht werden.

Den Freitod, die Selbsttötung, sah Foucault als eine mögliche Form des Todes an. Er dachte dabei sogar an ein Haus,, in dem man seine letzte Zeit „in der Lust“ verbringen würde, „in derDroge vielleicht, um dann zu verschwinden, wie durch Auslöschung…“ (zitiert nach Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, 1991, S 363) Foucault fragte, wozu man die Gewissheit des Sterbenmüssens zu einem Zufall herabwürdigen sollte (indem man dieses Schicksal den Ärzten , Kliniken, oder eben dem Zufall des irgendwie endenden Lebens überlässt) und ihr damit den Charakter einer Bestrafung geben, anstatt den Tod vorzubereiten und ihn als maßlose Lust zu arrangieren. (ebda. S. 364)

Foucault starb schließlich an Aids. Er hatte alle eindringlichen Warnungen ignoriert und sich bewusst der tödlichen Gefahr seiner sadomasochistischen Leidenschaften ausgesetzt. Er suchte im Tod eine Grenzerfahrung – und das nicht zum ersten Mal. Bereits als 21-Jähriger unternahm er einen ersten Selbstmordversuch, als Schüler soll sich der Sohn eines Arztes mit dem Rasiermesser die Brust aufgeschlitzt haben. Die Erfahrung der Todesnähe nannte er später: „eine seiner besten Erinnerungen“. Für Foucault war der Tod mit „vollkommener Lust“ assoziiert. (vgl. Schmid. a.a.O. S.361)

Freitod ja – eine Vorstellung

Schon seit längerer Zeit habe ich mit meinem möglichen eigenen Tod auseinandergesetzt. Spätestens seit ich Martin Heideggers Gedanken über das „Vorlaufen zum Tode“, als die Möglichkeit zum „eigentlichen“ Sein vorzudringen, kennengelernt habe, hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Besonders hatte mich berührt, dass der Tod, philosophisch gesehen, „das Ende aller Möglichkeiten“ bedeutet. Mich in diesen Gedanken hinein zu denken macht mir zunehmend Freude. Inzwischen bin ich mit mir im Reinen: ich hatte bisher, sowohl familiär als auch beruflich, ein sehr glückliches Leben, sollte es jetzt ohne meinen eigenen Willen zu Ende sein, habe ich die Gewissheit, in dieser Hinsicht nichts verpasst zu haben. Dafür bin ich unendlich dankbar. Jetzt, nach 75 intensiv gelebten Jahren, stehen ich jeden Morgen auf und freue mich, dass ich noch da bin, diese wunderbare Welt zu schauen. Täglich wächst meine Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens, der Natur und der Tatsache, dass die Welt überhaupt da ist.
Als Konsequenz aus diesen Auseinandersetzungen habe ich nunmehr alle Vorkehrungen getroffen, die zum Ende hin notwendig werden: Ein Baum im Friedwald wurde gekauft. Jetzt weiß ich schon, wo ich einmal hingebracht werde. Das Testament wurde zusammen mit meiner Ehefrau Notariell gefertig zugleich mit einem Betreuungsvertrag und einer Patientenverfügung. Insofern – wenn es also mit der Entscheidung zum selbst herbeigeführten Bilanztod einmal doch zu spät sein könnte, ist alles bedacht.
Einige Beispiele selbst gewählten Freitods (wie etwa Gunther Sachs oder Saint-Exupery) haben in mir die Überzeugung reifen lassen, dass es Umstände gibt, die eine solche Entscheidung nachvollziehbar machen und gewissermaßen rechtfertigen. Da hat sich jemand entschieden, selbst den Zeitpunkt des Fortgehens zu bestimmen. Philosophisch gesehen ist es ja die höchste Freiheit des Menschen, sich zum eigenen Abgang entscheiden zu können, zum Freitod eben. Keinem anderen Lebewesen ist das in dieser Weise gegeben. Wir Menschen haben eben auch die Verantwortung für das eigene Leben. Bei genauerer Betrachtung wird mir die Wucht und das Ausmaß dieser Verantwortung deutlich spürbar. Ich bin verantwortlich für mein eigenes Leben, und ich kann es auch selbst beenden! Dabei spielen Fragen nach dem Motiv zunächst einmal keine Rolle. Die entscheidende Fragen sind aber: selbst wenn ich es kann, darf ich es denn? Und wer soll darüber entscheiden?
Spätestens seit Jean-Paul Sartre wissen wir, dass es außerhalb des Menschen, der „Humanitas“, keine Instanz gibt, die unser moralisches Handeln vorgeben kann, oder die wir für unser Schicksal verantwortlich machen könnten. Wir Menschen sind einzig und allein für unser Tun und lassen verantwortlich zu machen. Selbst aus religiöser Perspektive gilt ja, dass Gott uns die Freiheit dazu gegeben hat. Wohl auch als Last, die wir zu Tragen haben. Natürlich bin ich auch für das Leben und Wohlergehen der Anderen, von denen ich ja auch Abhängig bin, verantwortlich, und hier gilt auch: Du sollst nicht töten! (das heißt ja nicht, dass es in der Realität genügend Abweichungen davon gibt: Mord , Totschlag, Attentat, Krieg etc.) . Moralen dieser Art sind Soll-Bestimmungen, keine Ist-Beschreibungen. Dennoch: Mein Leben ist mein Leben, und dafür bin einzig und allein ich selbst verantwortlich. Natürlich brauche ich mein eigenes Handeln, aber auch die Unterstützung durch die Anderen, um mein Leben zu bewahren und zu beschützen. Aber, um es zu beenden, freiwillig (d.h. wenn ich es wirklich will), bedarf es ausschließlich meines eigenen Entschlusses. Ich nehme mir mit dem Freitod „alle Möglichkeiten“ in dieser Welt. Freiwillig! Weil ich es will!
Und hier merke ich: Ich kann mir das Vorstellen. Ja, bin innerlich klar: das ist so. Nur: will ich es denn wirklich? Nein! Und jetzt beginnen die Gedanken zu kreiseln. Auf jeden Fall jetzt noch nicht!. Ich lebe doch noch viel zu gerne! Ich habe Spaß am Leben, bin einigermaßen Gesund, mach viel, lerne noch viel. Ich behalte mir einen solchen Schritt vor. Für den Zeitpunkt, wenn meine Bilanz diesen Spaß, diese Gesundheit, dieses Tun und dieses Lernen für alle noch denkbare Zukunft nicht mehr zu bieten scheint.
Ob ich dann aber noch zu entscheiden in der Lage bin? Und ob ich dann noch in der Lage sein werde, über die Vorstellung hinaus tätig zu werden, um das Ende herbeizuführen? Und ob ich es dann noch wirklich will? Wie kann ich das wissen?
Für den Moment gilt: Es ist eine schöne Vorstellung , die Freiheit zum Freitod zu haben, aber:
es ist eben für mich im gegenwätigen Zeitpunkt nur eine Vorstellung!