LF 2 (4) Unsere Suizidkultur

Seit Émile Durkheim, er schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wird der Suizid wissenschaftlich analysiert. Für Durkheim galt er als ein Ereignis, das an sich zwar gar nicht vorkommen dürfte, das gleichwohl in allen Kulturen, den historischen und den gegenwärtigen, auftritt.

Hier im Blog haben wir zwar nicht die Absicht, soziologische, psychologische, historische etc. Analysen  anzustellen; wie sehr aber die Einstellungen zum Suizid bzw. zum Sterbewunsch, in den verschiedenen Kulturen auseinandergehen, ist indes schon ein Phänomen, das nachdenklich macht.

Und zu vergleichen ist ja immer interessant. Leben wir in einer suizidtoleranten Kultur und Gesellschaft, oder ist die gegenwärtige Einstellung zum ‚Selbstmord‘ in einem spezifischen Sinne suizidfeindlich?  Natürlich steht die jeweilige Sichtweise zum Suizid dann immer auch in dem größeren Horizont der gesellschaftlichen Haltung zu Leben und Tod schlechthin.

Vorweg  urteilend lässt sich mit Thomas Macho zunächst einmal sagen, der Suizid habe im 20. Und 21. Jahrhundert eine „radikale Umwertung“ erfahren. Diese radikale Umwertung muss allerdings auf dem Hintergrund gesehen werden, dass wir geschichtlich aus einer extrem suizidfeindlichen Kultur kommen.

In unserem christlichen Abendland war und ist bis heute der Suizid eine schwere Sünde vor Gott. Und zu David Humes Zeiten beispielsweise, also noch im 17. und 18. Jh. und teilweise auch später noch,  wurde er auch innerhalb der weltlichen Rechtsprechung als ein so schweres Verbrechen beurteilt,  dass auch ein Hume es nicht wagte, öffentlich den Suizid als eine Möglichkeit des Sterbens anzusprechen. Sein Eintreten für den Freitod und seine klugen Gedanken hierzu fanden sich erst in seinen Nachlasspapieren. Siehe  zu Hume Leitfrage 4.

Heutzutage stellt uns die industrialisierte Gesellschaft und ihre Produktionsverhältnisse, wie sie ja auch das Gesundheitswesen erfasst hat, vor eine grundlegend neue Situation. Es gibt ja keinen ‚natürlichen‘ Tod mehr. Auch hat man  von Seiten der Kirchen inzwischen eingesehen, dass jeder Mensch das Recht auf ein würdevolles Begräbnis hat, was früher nicht der Fall war. Den Suizid als ein Verbrechen zu bestrafen, macht keinen Sinn mehr, man kann die Straftäter im Nachhinein ja ohnehin nicht mehr belangen. Gleichwohl, anerkannt als eine fraglos legitime Art zu sterben, ist der „Selbstmord“ nach wie vor nicht.

Der Weg in die künstliche Lebensverlängerung durch die Möglichkeiten der High-Tech-Medizin hat uns vor eine neue Situation gestellt, wie sie geschichtlich ohne Beispiel ist. Die geistige Verarbeitung dieser neuen Situation, dieser Wandel an der ‚Basis‘ (Karl Marx grüßt zurecht) kommt nur langsam voran. Dieter Birnbacher fordert folgerichtig zu einer grundlegenden Neubesinnung in der Frage nach dem Tod auf  (Dieter Birnbacher, Tod, 2017, S. 10 ff.).

Allein schon die innere Logik der Blockstruktur von Kapital und Technik, die Akkumulationslogik, treibt den Prozess voran.  Sterben und Tod sind ökonomisiert worden, wie das gesamte Gesundheitswesen überhaupt. Jeder Arzt ist sich dessen bewusst, bis in die die Details der „Fallpauschalen“ hinein, und hat dies bei seinem Handeln zu berücksichtigen. Einen direkten Akteur in diesem Prozess gibt es  nicht, alle handeln sie systemkonform, alle sind sie eingebunden in die große Maschine (Mumford), die uns ja auch viel Segen gebracht hat.

Es ergibt sich ein zwiespältiges Bild was den Suizid betrifft. Wieder etwas vorausgreifend und wieder mit Thomas Macho können wir sagen: wir leben in einer durchaus suizidaffinen  Zeit, was die geistigen Eliten betrifft. Der Suizid wird dort häufig verstanden als ein persönlicher Protest gegen die überkommenen  Normen und Konventionen. Im allgemeinen Betrieb hingegen, in unserer Gesundheitspolitik,  wird der Suizid als Krankheit gesehen und behandelt.

Birnbacher kommt zu dem Ergebnis, dass der Tod zunehmend in den Bereich der Gestaltbarkeit gerückt ist (S. 47). Dies einerseits im Bereich der allgemeinen medizinisch-technischen Handhabung, wie dann eben auch in dem persönlichen Bereich als eine Selbstbestimmung und „Selbsttechnik“ (Focault).

Auf der Suche nach Orientierung kann  ein  Kulturvergleich besonders zur vorchristlichen Antike  einigen Aufschluss erbringen. Hier steht uns ja erfreulicherweise  eine Reihe von schriftlichen Quellen zur Verfügung.

Die Antike war allgemein keine ausgesprochen suizidaffine Kultur, auch der antike Mensch war geprägt von Todesfurcht und von dem uns eingeborenen Vitaltrieb. Es waren die philosophisch ausgerichteten geistigen Eliten, in denen sich die Befürworter des Freitodes fanden. Am wohl bekanntesten wurden hierbei die Kyniker und Stoiker. Vergleiche hierzu auch die bei LF 4 gemachten Aussagen.

Am Rande soll kurz auf  einige den Alterssuizid deutlich bejahende kulturelle Strömungen hingewiesen werden. Auf den Fidschiinseln sah man Kinder als zu nachlässig an, wenn sie ihre altersschwachen Eltern nicht in den Tod führten. Im Alten Japan gab es die Mitwirkung der Jungen beim Alterssuizid ebenfalls. Rituelle Suizide waren im nördlichen Sibirien üblich, ebenso bei den Germanen. Auf der griechischen Insel Keos gab es im Altertum  den Suizid der über 60jähringen geradezu als eine Vorschrift.

Verletzte Ehre war für den Suizid, oft vollzogen als Selbstentleibung mit Dolch oder Schwert,  in früheren Kulturen das tragende Motiv; besonders grausam ritualisiert im alten Japan. Seppuku, die Selbsttötung, weil man das „Gesicht verloren“ hatte, wurde dort erst 1868 offiziell verboten. Das letzte bekannt gewordene Seppuku datiert von 1970.  Es hatte sich im Rittertum der Samurai im 12. Jh. ausgebildet. Im Westen oft Harakiri genannt, erfasste es weite Teile der Oberschicht, zum Beispiel auch die Gefolgsleute eines hochgestellten Samurai, die so in den Tod gingen, wenn ihr Herr und Gebieter zu Tode gekommen war.

Noch heute ist Japan das Land mit den meisten Suiziden weltweit. Er gilt ja nicht als Sünde, eine solche religiöse Tradition ist in Ostasien nicht gegeben, und das „Gesicht zu wahren“ blieb grundlegend wichtig.

Natürlicherweise stand in den frühen Gesellschaften vornehmlich der Alterssuizid im Vordergrund. Die materielle Basis war oft zu karg, um die Alten durchzuschleppen.  – Aber wie ist es denn heute? Wie sieht sie aus, die Perspektive?

Können es sich die postindustriellen Gesellschaften  langfristig leisten, dass nur noch ein Drittel der Bevölkerung überhaupt produktiv ist? Sagen wir zwischen ca. 30 und 60 Jahren? Diese mittlere Generation muss dann beides leisten, Kinder großziehen (mit einer langen Phase der Ausbildung) und die Alten ca. 25 Jahre lang alimentieren. Würde das in direkter Weise so geschehen und nicht indirekt durch verschachtelte Transferprozesse, könnte die Rede vom Generationenvertrag wirklich brisant werden.

Das Alt- und Uraltwerden wird in unserer Gesellschaft vorbehaltlos ja positiv gesehen. Diese Bejahung des Altwerdens reicht natürlich bis in den instinktiven Bereich einer Bejahung des Lebens um jeden Preis hinein.  Auch im ‚Überbau‘ bringt der Zeitgeist Träume von einer ewigen jugendlichen Fitness,  ja sogar von einem ewigen Fortleben hervor.

Die Todesfurcht und der tief in uns verankerte Wille zum Leben sind notwendig, damit sich das Leben dem großen kosmischen Prozess der Auflösung, dem Vergehen, entgegen stellt. Auch der Astrophysiker Stephen Hawking  (Brief Answers to t he big Questions, E-Book, Kindle, Pos 769 ff.) kann aus seiner Sicht erklären, warum das einzelne Lebewesen aus seiner Ego-Perspektive heraus nicht mit dem großen Verfall in die Entropie einverstanden sein kann.

 Einfach gesagt, physikalisch strebt alles dem Wärmetod entgegen und dieser Prozess ist unumkehrbar (2. Hauptsatz der Thermodynamik)  Das einzelne Leben aber – so Hawking – ist ein System, das in sich selbst besteht. Es stellt sich der großen physikalischen  Tendenz entgegen. Es muss versuchen, kraft des Systems seiner eigenen Lebendigkeit, Wärmepotenzen (Nahrungskalorien) aufzunehmen und sich konträr zum allgemeinen Wärmetod zu behaupten, indem es seine eigene Ordnung aufrecht erhält.

Philosophisch gesagt, das Leben versucht mit all seiner Kraft den Tod zu negieren, ihn in die Nichtexistenz zu treiben. Auch von der Physik her wird also  nachvollziehbar, dass unser Vitaltrieb so grundlegend  und mächtig ist.  Er fesselt uns an das Leben.

Wer den Freitod sucht, muss  ein Entfesselungskünstler werden.   

 In der griechischen Mythologie aber galt es als eine schwere Strafe, nicht sterben zu dürfen. Ein Fluch der Götter, wie er den Titanen-Menschen Prometheus und den Tantalos traf. Der Tantolos-Mythos spiegelt unsere  nie wirklich zur Erfüllung kommende Gier nach Leben wider  und Tantolosqualen zu erleiden, lässt uns auch heute noch schaudern.

Für den antiken Helden aber wie für den japanischen Samurai war ein ehrenvoller Tod weitaus wichtiger als etwa ein ehrloses Leben.  Diesen überkommenen Ehrbegriff haben wir in unseren demokratischen Gesellschaften bekanntlich in den Begriff der unantastbaren Würde transformiert. Ehrenvolles Sterben ist nicht mehr angesagt. Gibt es bei uns dafür deshalb jetzt ein Sterben in einer unangetasteten Würde?

Auf die Antike folgte bekanntlich der Einbruch  des Christentums mit seiner Umwertung vieler Werte. Das frühe Christentum, wie auch der biblische Text,  standen dem Suizid allerdings zunächst eher gleichgültig und neutral gegenüber. Hinzu kam ja auch die Bewunderung für den Opfertod. Wie im Islam gibt es auch im Christentum eine breite Strömung, die den Märtyrertod, den gottgewollten, vorbehaltlos bejaht,  ja verehrt. Ob Jesus, der ja wie Sokrates auch, durchaus die Möglichkeit hatte zu fliehen, Suizid beging oder nicht, sei dahingestellt.

Der Umschwung in die Suizid-Verdammung kam erst mit Augustinus um das Jahr 400. Realgeschichtlich hatte die Kirche in einer stark dezimierten Bevölkerung (Völkerwanderung, Epidemien etc.) mit zu vielen zu tun, die in ihrer Not den direkten Sprung ins Himmelreich suchten.

Der aggressive Kampf der Kirche gegen alles Heidnische und ihre Etablierung als Ordnungsmacht mit einer sich ausweitenden Einflussnahme auch auf die weltlich-politische Ebene haben dann den Suizid zu einem ehrlosen Verbrechen gemacht. Aus einer ehrenhaften Selbsttötung wurde ein  wurde ein krimineller Akt. Der Ausdruck „Selbstmord“ kam dabei übrigens erst recht spät auf; Martin Luther war es, der ihn in Umlauf brachte.

Die jeweilige Einstellung zum Suizid wird also bestimmt von der realgeschichtlichen Basis sowie den soziokulturellen Wertvorstellungen als deren Überbau, was wenig überrascht. Beides unterliegt indes handgreiflich dem geschichtlichen Wandel, wie er sich mal langsamer, mal schneller vollzieht. In Großbritannien wurde der Suizid erst 1961 entkriminalisiert.

Die lange Periode der kirchlichen Bevormundung, deren Verdammung des Suizids als eine schwere Sünde, sowie seine Kriminalisierung zeitigte also Folgen, wie sie ihre mentale Wirkung bis heute entfalten. Während, wie gesagt,  in der Antike der Suizid eine ehrenhafte, heroische Tat war, ist er bei uns heute  behaftet mit Scham.

„Heute ist der Suizid keine Sünde mehr und kein Verbrechen, aber er ist eine Krankheit. Er ist pathologisiert worden. … Man schweigt darüber und schämt sich.“ (Macho in einem Interview in der NZZ vom 10. 12. 2017) Auch der Alterssuizid gilt bei uns als unangemessen, unschicklich und irrational, und wer möchte schon außerhalb der Konventionen stehen.

Natürlich kommen hierbei auch wieder realgeschichtliche Basisfaktoren ins Spiel. Sie machen die umgreifende Pathologisierung  des Suizids erst erklärlich. Zunächst einmal  ist da die Wissenschaft und ihre Eigendynamik zu sehen. Für sie sind die Suizide Ereignisse,  bei denen dann die Bearbeitung der Daten- und Faktenlage zunächst einmal ganz im Vordergrund steht und zu bearbeiten ist.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Suizidologie zu einer eigenständigen, etablierten Wissenschaft ausgebildet. Ihr erklärtes Ziel: Erforschung des Phänomens ‚Selbstmord‘ mit dem erklärten Ziel der Suizidprävention.

Dass die Selbsttötung auf eine psychische Störung zurückzuführen ist, war allerdings bis fast in die Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eine schlicht unbekannte Sichtweise. Erst 1838 hat ein französischer Arzt dann den Suizid so interpretiert. Eine, wenn man an die zahlreichen Duelle denkt, die es im 19. Jh. noch gab, durchaus ungewöhnliche Sichtweise. Der Blick auf den Suizid als einer Krankheit verdichtete sich indes immer mehr. Wissenschaft kann nur Erfolg haben, wenn sie die Phänomene auf das Zugängliche reduziert.

Und als eine Krankheit kann der Suizid ja wissenschaftlich hinlänglich gut bearbeitet werden. Schon Galilei hatte empfohlen, den „Rest“, also das, was sich dem wissenschaftlichen Zugriff  offenkundig entzieht, zunächst erst einmal einfach wegzulassen.

 Neben den pathologischen Formen, die gewiss die zahlreichsten sind, gibt es aber doch den Suizid aus einer durchaus rationalen Verzweiflung heraus, z. B. bei einer terminalen körperlichen Krankheit, und es gibt den reiflich überlegten Freitod, den Bilanztod nach einem erfüllten Leben und die Lebenssattheit als Kriterium.

Diese anderen ‚Selbstmord’gründe gehören zu dem „Rest“, den unbeachtet zu lassen, das wissenschaftliche Selbstverständnis nicht sonderlich stört. Mit einem gewissen Tunnelblick wird im wissenschaftlichen Mainstream somit der Suizid als eine psychische Krankheit betrachtet. „Alle möglichen Suizide werden in den Topf der Depression geworfen. In dieser Optik bringt der freiwillige Tod nur Versager hervor.“ (Macho ebenda)

Bereits Émile Durkheim stützte sich 1897 naheliegender weise auf das für eine wissenschaftlich-soziologische Untersuchung zugängliche Datenmaterial .Und das waren die Protokolle von Ärzten und die Berichte aus den Psychiatrien. „Von den anderen (Suiziden) wissen wir fast nichts.“ (Durkheim) So ist es bis heute geblieben. Der Wissenschaftsbetrieb fühlt sich dort am wohlsten, wo er sich auf  leicht zugängliche Daten und Fakten stützen kann.

„Kurzum Suizide sind schlecht: Sie gelten zwar nicht mehr als die schwere Sünde oder Verbrechen, aber doch als irrationale, pathologische Handlungen.“ (Macho, Das Leben nehmen, S. 12) Thomas Macho sieht in der Pathologisierung des Suizids auch eine spezifische Moralisierung desselben, die  es zu durchbrechen gilt. Dir und mir bleibt indes vorläufig nur, mit einem Umfeld zu leben, das uns diese spezifische Moralisierung in aller Regel entgegen bringt.

Wo das Damoklesschwert der Sündhaftigkeit mit einer schweren Strafandrohung im Jenseits über dir schwebt, hast du keine Chance auf eine freie Willensentscheidung. Heute hast du gleichwohl das Recht, aus eigenem Entschluss zu sterben – de jure. De fakto giltst du als krank und musst behandelt werden. Kein ‚Selbstmord‘ gilt heute noch als ehrenhaft und heroisch, wer ihn begeht ist ein Versager, er/sie war zu schwach im Leben zu bestehen.

Während also in der Antike der Suizident als ein Held da stand, weil er mit seinem selbstbestimmten  heroischen Ableben seine Ehre bewahrt hatte, musst du dich mit deinem Suizidvorhaben  heutzutage darauf einrichten, ein krankes Würmchen zu sein. Schlimmstenfalls, nach einem gescheiterten Versuch, und bei „fortdauernder Selbstgefährdung“ droht  die Psychiatrie.

Natürlich ist die auch staatlich geförderte Suizidprävention nötig und berechtigt, natürlich gibt es die vielen pathologischen Fälle und natürlich finden auch viele wieder zurück ins Leben. Aber es dominiert eben das pars-pro-toto Denken. Es gibt eine erkleckliche Zahl möglicher Suizidmotive. Sie verschwindet aber hinter dem Etikett „pathologisch“. So hat es freie Tod, der  ‚wohlerwogene‘ Philosophentod, schwer sich zu rechtfertigen.

Noch ein wenig von Thomas Macho gefällig?  „ Wir begegnen dem Suizidenten immer nur mit Mitleid und Vorwurf. … In dieser Optik bringt der freiwillige Tod nur Versager hervor: der Suizident hat im Leben versagt, und die Angehörigen und Freunde haben versagt. … Wir haben den lachenden Tod vergessen ( aus dem NZZ-Interview).

Nachdem nun die Kirche das Verständnis der Antike vom Suizid umgewandelt hatte, stehen wir heute vor einer allerding recht langsam voran kommenden Überwindung der kirchlichen Bevormundung mit ihrem Dogma vom absoluten  „Lebensschutz“. Weitgehend beschränkt ist diese kritische Distanz noch  auf die Literaten- und Intellektuellenkreise. Immerhin verlautet, wie bereits angeführt,  aber auch aus dem Bundesverfassungsgericht, die Selbsttötung müsse als ein Menschenrecht anerkannt werden. (Vgl. auch LF 7) Überdies nimmt die allgemeine Nachdenklichkeit über die Selbsttötung zu.

Sei also guten Mutes. Du und ich, wir werden mehr werden. Denn was gilt als richtig, was ist Wahrheit?  (Siehe dazu den Aufsatz im ersten Beitrag zu dieser Leitfrage 2) In einer pluralistischen Gesellschaft wie der unsrigen kann doch „Wahrheit“  nur das Resultat eines voranschreitenden, allgemeinen Vereinbarungsprozesses sein.

Und solche Prozesse verlaufen zäh. Sollten jedoch die realen Basisfaktoren sich dramatisch verändern, z. B. in der Weise, dass die künstliche Lebensverlängerung für die Gesellschaft untragbar wird  und auch die unmittelbaren Angehörigen umschwenken, was durchaus eine mögliche Perspektive ist, wird es in größeren Schüben voran  gehen. Ich finde es gut, bei denen zu sein, die antizipieren können.

„Selbsttötung? – Betroffenheit – Betriebsunfall im Tabutempel.“  (Raymond Walden) So ist es heute. Und morgen? Zumindest die Stigmatisierung des Alterssuizids, Macho fordert hier ein „Aufbrechen“,  wird von der ‚Gegenseite‘ immer weniger aufrecht zu halten sein.

Zu LF 4 Freitod als Lebenskunst

In der Philosphie der neueren Zeit können wir zwei Dimensionen der Suche nach einer Lebenskunst ausmachen:

  1. Lebenskunst als Anpassung an Norm und Konvention
  2. Lebenskunst als Widerstand gegen Norm und Konvention

Für Letztere setzt sich vor allem der Philosoph Michel Foucault ein.

Für Foucault heißt das , die Phänomenologie der alltäglichen Lebenswelt zu erforschen und zu einer möglichen Lebenskunst zuzuspitzen. Dabei geht es ihm um das Erkunden von Möglichkeiten zur Veränderung des Lebens im Alltag. Im Zentrum stehen dabei die Praktiken zur Transformation des Individuums, die Anstrengung, andere Lebensweisen zu erfinden und zu erproben.
Foucault plädiert dafür, die Philosophie der Lebenskunst bei den antiken Philosophen (Stoa, Epikurismus, Kynismus) wieder zu entdecken und an moderne Bewegungen der Kunst (Dada, Fluxus, Performance) anzuschließen. Es geht um den Charakter der Reflexivität. Es ist die Lebenskunst, die das unreflektierte Dasein zu erschüttern und zur Reflexion seiner selbst zu bringen vermag.

Foucault geht es im Ganzen um die Produktion einer Subjektivität, die eine Selbstpraktik, eine Praxis der Freiheit ist, als die Formung und Transformation seiner selbst gegen Normen und Konventionen, die genau diese Transformation verhindern. Im weitesten Sinne plädiert er für eine Aesthetik der Existenz, die
die Sorge um sich und die anderen in den Mittelpunkt der praktischen Philosophie stellt, eine Haltung, die das Leben als reflektierte Selbstgestaltung versteht und somit das eigene Leben zu einem Kunstwerk werden lässt.

In seinen letzten Vorlesungen (Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der Anderen, Bd. I 2010 und Bd. II 2012; Aesthetik der Existenz 2007) hat Foucault diese Haltung besonders in der Erforschung der Haltung der Parrhesia analysiert. Dem antiken Herrscher, dem es für das Wohlergehen der Familie, des Oikos, des Volkes oder des Staates zu tun war, war aufgegeben, sich selbst soweit zu entwickeln, dass er das Wohl der anderen angemessen im Blick hatte. Um sich selbst soweit entwickeln zu können, musste er sich mit Menschen umgeben, die ebenso dachten und handeln konnten, ihn also auch kritisch beraten konnten. Das konnte nur gelingen, wenn der Untergebene allen Risiken einer späteren Verurteilung zum Trotz die Wahrheit sprechen konnte. Parrhesia war also ein Handeln, bei dem der betreffende gegenüber einem Höher gestellten

  1. Genau das sagte, was er selbst tatsächlich für richtig hielt.
  2. Den Mut hatte, es auch bei vollem Risiko einer späteren Verurteilung durch den Herrscher zu sagen (den eignen Tod eingeschlossen)
  3. Jede Art von Lüge, Scheichelei, Überredung oder Beweis ablehnte,
  4. Dasselbe auch öffentlich bekundete.

Für Foucault galt, dass diese Haltung sich in mehreren Ebenen durchsetzen musste:

  • politisch
  • gerichtlich
  • moralisch
  • philosophisch, letztendlich als philosophischeb Lebensform insgesamt.

Es ist klar, dass dies nur einem Subjekt gelingt, welches sich im höchsten Maß frei entwickelt hat. Dazu gehört ein Leben, welches sich jenseits gängelnder Normen und Konventionen entfaltet hat, unter Einübung aller notwendigen Praktiken
der Selbstformung. Dazu bot die antike Philosphie die entsprechenden Exercitien, mit der Forderung, diese ein Leben lang u üben.
Als die wichtigsten Übungsbereiche galten:

  1. Bekämpfung der Leidenschaften,
  2. im Bereich der Natur (Physis) und er Gemeinschaft mit anderen rational handeln,
  3. Irrtümer vermeiden und sich nur im Bereich des Universal-Objektiven bewegen.
    (Vgl. Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, 1991)

Insofern war in der Antike Philosophie auch immer Ethik, aber dies im Sinne eines Ethos, einer Weise zu sein und sich zu verhalten. „Damit jedoch diese Praxis der Freiheit in einem Ethos Gestalt annehmen kann, die als gut, schön, ehrenhaft, achtbar und erinnerungswürdig erscheint, bedarf es eingehender Arbeit des Selbst an sich selbst“ (Aesthetik der Existenz, S. 260)

Zu dieser Arbeit gehört für Foucault auch immer die Einübung in die Tatsache, dass der Tod zum Leben gehört. Wenn das Sterben noch ein Akt des Lebens ist, dann gehört auch die Kunst des Sterbens wieder zu einem konstituierenden Bestandteil der Philosophie der Lebenskunst. Ebenso, wie das Leben zu einem Kunstwerk gemacht werden muss, so muss auch aus dem Tod ein Werk gemacht werden.

Den Freitod, die Selbsttötung, sah Foucault als eine mögliche Form des Todes an. Er dachte dabei sogar an ein Haus,, in dem man seine letzte Zeit „in der Lust“ verbringen würde, „in derDroge vielleicht, um dann zu verschwinden, wie durch Auslöschung…“ (zitiert nach Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, 1991, S 363) Foucault fragte, wozu man die Gewissheit des Sterbenmüssens zu einem Zufall herabwürdigen sollte (indem man dieses Schicksal den Ärzten , Kliniken, oder eben dem Zufall des irgendwie endenden Lebens überlässt) und ihr damit den Charakter einer Bestrafung geben, anstatt den Tod vorzubereiten und ihn als maßlose Lust zu arrangieren. (ebda. S. 364)

Foucault starb schließlich an Aids. Er hatte alle eindringlichen Warnungen ignoriert und sich bewusst der tödlichen Gefahr seiner sadomasochistischen Leidenschaften ausgesetzt. Er suchte im Tod eine Grenzerfahrung – und das nicht zum ersten Mal. Bereits als 21-Jähriger unternahm er einen ersten Selbstmordversuch, als Schüler soll sich der Sohn eines Arztes mit dem Rasiermesser die Brust aufgeschlitzt haben. Die Erfahrung der Todesnähe nannte er später: „eine seiner besten Erinnerungen“. Für Foucault war der Tod mit „vollkommener Lust“ assoziiert. (vgl. Schmid. a.a.O. S.361)