Aber ja doch, es ist ein Abschied, nein, es ist ein
Abbruch. Wer da keine Unsicherheit, keine Wut, keine Trauer, keine Ängste
empfindet und keine tief sitzenden Bedenken hat, der ist ein Übermensch, wie
ihn Nietzsche gerne gehabt hätte.
Vielleicht hast du wie ich schon öfters den
melancholischen Song von Terry Jacks vor dich hin gesummt,
Goodbye my
friend is hard to die
When all the
birds are singing in the sky…
(Mach´s gut mein Freund, ist schwer zu sterben,
während all die Vögel im Himmel singen.)
Wir denken mit unserem Kopf, leben aber in unseren
Gefühlen. „Genug ist genug“ zu sagen ist nicht leicht, es ist schwer. Selbst
wer auf einem pathologischen Suizidtrip ist, wir gebeutelt von Ängsten und
Zweifeln. (Vgl. Anais Miller, Endstation Freitod, 2018.)
Die beiden Angelpunkte, bzw. die beiden Quellen, aus denen unsere Zweifel und Ängste
hervorgehen, sind unsere Todesangst und unser unbedingter Wille zum Leben, der
Vitaltrieb. Sie verstärken sich gegenseitig. Philosophische Gedankengebäude
wurzeln darin, wie ebenso die großen Mythen und Mythologien. Und sie lassen uns
in Furcht und Hoffnung leben (siehe dazu
auch LF 2).
Wenn wir im Sinne einer guten Psychohygiene mit uns umgehen wollen, müssen wir leider beide,
die Todesangst und die Lebensgier, als uns zugehörig und naturgegeben akzeptieren und bearbeiten.
Insofern war Epikurs Gedankengang, die Todesangst als abwegig
zu bezeichnen, weil wir den Tod
gar nicht als schrecklich empfinden können, denn wir sind ja dann tot, zwar
pfiffig, aber es war dies eine bloß
rationale Überlegung.
Gleichwohl, wir wollen einen rational und vernünftig
begründeten Suizid. Welche Art von Vernunft kann damit gemeint sein? Da geht bekanntlich einiges durcheinander.
Sollten wir den alten Griechen beipflichten und die Vernunft als etwas
„Höheres“ verstehen, als die sog. höhere
Vernunft, reserviert für besondere Menschen, wie etwa Plato es war oder für
sich beanspruchte? Wie hoch soll es denn sein? Eine höhere Vernunft, die uns
quasi gottgleich macht? Auch im klassischen Griechenland entstand da aber ein
Hybris-Problem. Wer gottgleich sein wollte, wurde als Frevler mit dem Tode
bestraft. – Kurzum gesagt, die Rede von der „höheren
Vernunft“ war die Rede von einem in sich widersprüchlichen Mythos. Einsehbar, dass wir bei der menschlichen Vernunft und
ihrer Begrenztheit bleiben sollten.
Im Frührationalismus (der Humanismus im 15. Jh.) und dann im Spätrationalismus (17./18. Jh.) kam es bekanntlich zu einer überbordenden Begeisterung für das Rationale. Die Rationalität schwupp die wupp mit ´Vernunft´ gleichzusetzen war kühn und war problematisch. Man denke nur an den Vernunftkult in der Französischen Revolution. Hier und anderswo feierte der Vernunftkult in der Moderne eine befremdliche Wiederkehr.
Auf eine
„höhere Vernunft“ gleich welcher Art
kann sich unsere Suizidabsicht demnach nicht stützen. Befleißigen wir uns
besser einer geistigen Demut. (Vgl. H.
O. Leng, Die Dimensionen der Demut, 2015.)
Geben wir uns zufrieden mit einer Vernunft, wie sie im Angelsächsischen
gut mit Common Sense umschrieben ist.
Mit dem Common Sense an eine Frage heranzugehen,
bedeutet zu einem handlungsrelevanten Urteil kommen zu wollen. Sicherlich geht das nicht
ohne zu denken, aber dieses Denken muss unsere Gefühle und unser Wollen
mitnehmen. Vernunft ist mehr als Verstand. Aus sich heraus kommt der Verstand
zu keinen lebenspraktischen Entscheidungen, weil er sich lediglich in
Funktionalitäten, in Proportionalitäten, zuweilen dann auch in Vergleichen und
Analogien bewegen kann. Am Ende kommt er zu Schlussfolgerungen. Ein Schluss ist
aber bekanntlich kein Urteil.
Der Verstand führt uns zudem in den Stolz. Stolz kann ängstigen, zumindest
führt er in die Angst, ihn zu verlieren. Unser Intellekt baut eine Ich-Burg,
auf die wir stolz sind, auch im Sterben wollen wir diesen Stolz dann nicht verlieren. Außerhalb dieser Burg fluten die Gefühle und Triebe. Sie führen nicht nur selbst ein
schwieriges Eigenleben, sie haben auch die Aufgabe, für den Verstand ein Korrektiv zu sein. Einen
rein rationalen Suizid gibt es nicht.
Zunächst einmal ist ohnehin alles ausgerichtet auf
das Verleugnen und Verdrängen. „Solange wir nicht wissen, wie wir gestorben
sind, glauben wir nicht, dass wir überhaupt sterben können.“ (Johannes
Schneider) Mag sein, dies ist ein Wortspiel. Aber wissen wir denn, wann und wie
wir sterben wollen?
Wir sind ja in der Weise sozialisiert worden, dass
das Sterben und der Tod in unserem Leben
kaum noch sichtbar wird. Jeder Tod gilt
als ein Betriebsunfall, wie er nicht vorkommen sollte. Ein temporärer Schreck,
ein vielleicht auch heftiges Bedauern, „und das Leben geht weiter.“
Christian Schüle, Wie wir sterben lernen, 2013, stimmt ein langes Klagelied über unsere
sterbefeindlichen gesellschaftlichen Strukturen an. Er breitet dabei die
bekannten sozioökonomischen Analysen aus, wie wir sie aus der Frankfurter
Schule kennen. Eingespannt in funktionsgetrimmte Anforderungsprofile,
entfremdet und instrumentalisiert, sind wir damit beschäftigt uns am Leben
abzuarbeiten. Belastbarkeit ist das Kriterium, wenn wir uns dabei miteinander
vergleichen.
Gleichzeitig wollen wir möglichst viel Lustgewinn, ganz viel „Spaß“, herausquetschen. Unser Zeitbudget
erscheint uns dabei immer kleiner zu
werden, und wir versuchen, auch gegen
dieses Ärgernis anzugehen. Wir leben heute insgesamt doppelt so schnell wie vor 200 Jahren und
leben zugleich doppelt so lang. Kann das Leben überhaupt zu kurz sein? Seneca hatte
dies entschieden verneint. Unser Leben
aber ist maßlos geworden.
Gleichzeitig ist ein solcher funktionsgetrimmter, technikgestützter und auf eine merkwürdig anmutende Endlosigkeit
ausgerichteter Lebensentwurf wahrlich nicht geeignet, unsere Angst vor dem Tod
kleiner werden zu lassen.
Allerdings ist es indes auch angebracht, den Blick durch die Brille Adornos zu relativieren. Keine Frage, wir leben in höchst fragwürdigen instrumentalisierten Verhältnissen, aber die sozioökonomischen Analysen, so richtig sie als solche auch sind, erfassen ja den konkreten einzelnen Menschen allenfalls zu Hälfte. Vielleicht lässt sich dies gut verdeutlichen, wenn wir den etwas exotisch anmutenden Vergleich zum gegenwärtigen Iran ziehen.
Die Menschen dort wissen, was „das System“ von ihnen
erwartet und verlangt. Sie wissen aber auch, was liberal, ja libertär ist.
„Draußen“ verhält man sich religiös streng angepasst und konform, hinter den
Mauern des Privaten, drinnen, gibt es ein deutlich anderes Leben. Gegen Adorno
ist einzuwenden, der generalisierende Blick auf „die Strukturen“ kann auch
täuschen . Es gibt ein richtiges Leben auch im Falschen.
Wenn die „Strukturen“ in ihrem Eigendasein den Tod
im Grunde nicht mehr zulassen, ihn lediglich noch als einen Betriebsunfall sehen,
können wir selbst uns gleichwohl persönlich von dieser Sichtweise
distanzieren. Seneca unterschied zwischen „den Weisen“ und den vielen
„Törichten“. Unsere Todesangst ist damit
noch nicht verschwunden, aber wir können sie souveräner in uns bearbeiten.
Das bleibt indes schwierig. Noch schwieriger wird es, wenn wir nun noch den Vitaltrieb hinzunehmen. Die Natur gefällt sich in einem Paradoxon; jedem einzelnen ihrer Lebewesen pflanzt sie einen unbändigen Lebenswillen ein, die Sehnsucht und den Willen zu einem ewigen Leben – und gleichzeitig stellt sie unser reales Leben unter das das Diktat der Sterblichkeit.
Die „weise Mutter Natur“ (Montaigne) räumt so ihren Kindern nur eine begrenzte Lebenszeit ein, gleichzeitig aber auch die Idee und Illusion von einem ewigen Leben. Diese Illusion wird auch dadurch verstärkt, dass „das“ Leben als solches ja tatsächlich in alle Ewigkeit fortzudauern scheint. Ein Widerspruch, der emotional nur schwer zu akzeptieren ist. Theologisch und philosophisch bedarf es dann einiger Verrenkungen ihn zu bearbeiten. Warum sollte ein Lebewesen sich nicht ständig regenerieren können, wo doch das Leben als solches ein permanenter Erneuerungsprozess ist? Der Transhumanismus lässt grüßen.
Unser Ego will leben, leben, leben. Wir nehmen den
Druck des Vitaltriebs zumeist nicht wahr, aber zahlreiche unserer Gedanken
und Gefühle werden von ihm affiziert. Es kommt zu einer Lebenspraxis, mit der
wir das Leben unermüdlich antreiben, um gleichzeitig von diesem Leben getrieben
zu sein.
Seneca wurde in seinen Schriften nicht müde, unablässig diejenigen Menschen zu loben, die die Furcht vor dem Tod überwunden hatten. Dem Zeitgeist der Antike entsprechend kam dabei stets etwas Heroisches in Spiel. Wer es vermochte, die „Ketten des Lebens“ ( so Seneca) zu verachten und seinem Freitod mit heiterer Gelassenheit entgegen zu gehen, hatte seine volle Bewunderung. Diese Betonung des Heroischen war in der Antike stets gegenwärtig und der Freitod galt durchaus als eine bewunderungswürdige Tat.
Es waren tyrannische Zeiten damals. Die Todesstrafe wurde sehr oft und häufig auch willkürlich verhängt. Die Kreuzigung war dabei noch eines der „humaneren“ Hinrichtungsverfahren. Die heroische Selbsttötung der stoischen Philosophen wurde also durchaus geachtet; selbstverständlich und naheliegend war sie jedoch auch damals nicht.
Unsere heutige
Ratgeberliteratur macht es sich ja recht einfach. Sie empfiehlt, die negative Gefühle und Ängste sowie auch die
problematischen Triebe zunächst
zuzulassen, sie sich bewusst zu machen,
um sie dann gelassen loszulassen. Schön, schön.
In gewisser Weise hatten es die Menschen in der Antike leichter. Der
Suizid war nicht tabuisiert, und verlorene Ehre war allemal ein honoriger Grund, sich das Leben
zu nehmen.
Wer heute Suizid begehen will, muss sich zunächst
mit dem verqueren Geist der Zeit auseinandersetzen, er kann auch nicht mehr mit
einem besonderen Stolz dahin scheiden, er muss sich demütig und klein machen.
Dies stößt auf den ernergischen Protest unseres Egos im Inneren. Warum sollte ich
mich für unwichtig und verzichtbar erklären, wo ich doch ganz offenkundig
(zumindest für mich selbst) unverzichtbar bin?
Ich, nur ein beliebiges Staubkorn im Universum? Theoretisch kann ich dem umstandslos zustimmen, ja, richtig, selbst die gesamte Menschheitsgeschichte wird in der Geschichte des Kosmos allenfalls ein Wimpernschlag gewesen sein. Emotional und von meinem Vitaltrieb her kann ich mich damit nicht abfinden.
Gefühle lassen sich sublimieren. Bei der Angst ist
dies aber offensichtlich besonders schwierig. Schier unmöglich scheint aber
eine Sublimierung des Lebenstriebs zu sein. Bedürfnisse lassen sich zwar
verfeinern, und Hegel meinte sogar, erst durch das Ausgestalten und Verfeinern
unserer Bedürfnisse würden wir zivilisierte Menschen mit Kultur. Mag sein, hat
aber auch Schattenseiten.
Der Vitaltrieb ist ohnehin deutlich mehr als ein
einzelnes Bedürfnis. Er ist in einer elementaren Weise da, und erst der tatsächliche
Eintritt unseres Todes wird ihn auflösen. Man kann dies dann mit Seneca als
eine Befreiung begreifen.