Zu LF1 Den freien Tod in Würde akzeptieren

Wie viele Menschen sterben in unserer Zeit einen würdevollen Tod?  Die allermeisten sicherlich nicht. Wie viele Menschen bringen sich gegenseitig gewaltsam um? Viele – in Kriegen, Attentaten, Unglücksereignissen, auch durch seelische Grausamkeiten. Und überhaupt sieht es so aus, dass sich nun die gesamte Menschheit umbringen will, indem sie den Planeten unbewohnbar macht.
Es ist schon paradox, wie sich die Menschen gegenseitig umbringen und dabei über das fünfte der zehn christlichen Gebote brutal hinweg sehen,  und gleichzeitig wollen sie den persönlichen Freitod nicht zulassen. Die individuelle, freie, souveräne Selbsttötung wird mit Vehemenz tabuisiert. Aber sollten wir nicht es geradezu als ein Gottesgeschenk betrachten,  dass  der Mensch wohl als einziges Lebewesen über diese Gabe verfügt? Seneca hat betont, es sei doch eine Freude zu wissen, dass wir als Menschen wirklich selbstbestimmt unserem Leben ein Ende setzen können.
Wir blicken auf eine Mixtur von religiösen Gewissensvorgaben, Trieben, Gemütslagen und Ängsten. Wenn du zu einem ruhigen Urteil über deine Freitodabsichten kommen willst, müssen wir diese Mixtur aufdröseln. Das macht Mühe und ist nicht einfach.
Der bisher wortgewaltigste Befürworter  des freien Todes war Friedrich Nietzsche. Er konnte sich dabei auf antike Vorbilder  stützen –  Pythagoras, Demokrit, Epikur,  einige Kyniker und Stoiker und auch Cato beispielsweise.  Natürlich war er sich auch darüber im Klaren, dass wir von einer gesellschaftlichen Akzeptanz des Freitodes noch weit entfernt sind. Auch heute, 150 Jahre später, haben wir diese Akzeptanz noch längst nicht erreicht.
Das Selbstbestimmungsrecht über das eigene Sterben ist ein konstitutiver Teil unserer persönlichen Würde. Eine Würde, die gemäß dem Grundgesetz der BRD auch gegen das Übliche, gegen das gesellschaftliche „Man“ (Heidegger), gilt. Es geht um ein individuelles Recht vor aller Vergemeinschaftung. Lass dich nicht einschüchtern.
Für Nietzsche war „der natürliche Tod“ kein Tod in Würde. Der Mensch erlange seine Würde erst dann, wenn er souverän von seiner eigenen Vernünftigkeit Gebrauch zu machen versteht.
Die gängige Vorstellung, ein großer Gott oder die Natur habe uns bei unserer Geburt das Leben „geschenkt“ und sie würden uns dieses Geschenk, wenn es denn an der Zeit ist,  dann wieder entziehen, empfand der Philosoph des Ecce Homo als eine klerikale Bevormundung.
Auch Epikur sprach sich deutlich dagegen aus, den Tod religiös oder sonst wie aufzuladen. Solange wir da sind, ist der Tod nicht da. Und wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr existent. So what?  Aber Gott und die Götter?  Ach, sagt Epikur,  die kümmert das nicht; sie haben anderes zu tun als sich einzumischen in die Natur des ewigen Werdens und Vergehens.
Aus diesem Werden und Vergehen besteht das ganze Leben. Indem die  Natur alles Leben nur als ein konkretes einzelnes Leben hervorbringt und auch einzeln und individuell beendet, zeigt sie uns ihre tiefe Weisheit und ihr Vermögen.
Der Tod ist immer ein einzelner Tod und als solcher vollkommen vernünftig und sinnvoll. Du bist angehalten, dazu ja zu sagen und deine Sterblichkeit demütig zu akzeptieren. Es ist auch nichts sonderlich Heroisches dabei.
In seiner Fähigkeit zum Freitod  zeigt sich allerdings für den Menschen etwas ganz Besonderes. In einer singulären Verantwortung bezüglich seines Lebens und seines Lebensendes, in dieser besonderen Autonomie, offenbart sich eine einzigartige Würde. Dieser Würde und dieser Verantwortung gerecht zu werden ist schwer. Du musst besonnen, demütig und tapfer sein.

Freitod ja – eine Vorstellung

Schon seit längerer Zeit habe ich mit meinem möglichen eigenen Tod auseinandergesetzt. Spätestens seit ich Martin Heideggers Gedanken über das „Vorlaufen zum Tode“, als die Möglichkeit zum „eigentlichen“ Sein vorzudringen, kennengelernt habe, hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Besonders hatte mich berührt, dass der Tod, philosophisch gesehen, „das Ende aller Möglichkeiten“ bedeutet. Mich in diesen Gedanken hinein zu denken macht mir zunehmend Freude. Inzwischen bin ich mit mir im Reinen: ich hatte bisher, sowohl familiär als auch beruflich, ein sehr glückliches Leben, sollte es jetzt ohne meinen eigenen Willen zu Ende sein, habe ich die Gewissheit, in dieser Hinsicht nichts verpasst zu haben. Dafür bin ich unendlich dankbar. Jetzt, nach 75 intensiv gelebten Jahren, stehen ich jeden Morgen auf und freue mich, dass ich noch da bin, diese wunderbare Welt zu schauen. Täglich wächst meine Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens, der Natur und der Tatsache, dass die Welt überhaupt da ist.
Als Konsequenz aus diesen Auseinandersetzungen habe ich nunmehr alle Vorkehrungen getroffen, die zum Ende hin notwendig werden: Ein Baum im Friedwald wurde gekauft. Jetzt weiß ich schon, wo ich einmal hingebracht werde. Das Testament wurde zusammen mit meiner Ehefrau Notariell gefertig zugleich mit einem Betreuungsvertrag und einer Patientenverfügung. Insofern – wenn es also mit der Entscheidung zum selbst herbeigeführten Bilanztod einmal doch zu spät sein könnte, ist alles bedacht.
Einige Beispiele selbst gewählten Freitods (wie etwa Gunther Sachs oder Saint-Exupery) haben in mir die Überzeugung reifen lassen, dass es Umstände gibt, die eine solche Entscheidung nachvollziehbar machen und gewissermaßen rechtfertigen. Da hat sich jemand entschieden, selbst den Zeitpunkt des Fortgehens zu bestimmen. Philosophisch gesehen ist es ja die höchste Freiheit des Menschen, sich zum eigenen Abgang entscheiden zu können, zum Freitod eben. Keinem anderen Lebewesen ist das in dieser Weise gegeben. Wir Menschen haben eben auch die Verantwortung für das eigene Leben. Bei genauerer Betrachtung wird mir die Wucht und das Ausmaß dieser Verantwortung deutlich spürbar. Ich bin verantwortlich für mein eigenes Leben, und ich kann es auch selbst beenden! Dabei spielen Fragen nach dem Motiv zunächst einmal keine Rolle. Die entscheidende Fragen sind aber: selbst wenn ich es kann, darf ich es denn? Und wer soll darüber entscheiden?
Spätestens seit Jean-Paul Sartre wissen wir, dass es außerhalb des Menschen, der „Humanitas“, keine Instanz gibt, die unser moralisches Handeln vorgeben kann, oder die wir für unser Schicksal verantwortlich machen könnten. Wir Menschen sind einzig und allein für unser Tun und lassen verantwortlich zu machen. Selbst aus religiöser Perspektive gilt ja, dass Gott uns die Freiheit dazu gegeben hat. Wohl auch als Last, die wir zu Tragen haben. Natürlich bin ich auch für das Leben und Wohlergehen der Anderen, von denen ich ja auch Abhängig bin, verantwortlich, und hier gilt auch: Du sollst nicht töten! (das heißt ja nicht, dass es in der Realität genügend Abweichungen davon gibt: Mord , Totschlag, Attentat, Krieg etc.) . Moralen dieser Art sind Soll-Bestimmungen, keine Ist-Beschreibungen. Dennoch: Mein Leben ist mein Leben, und dafür bin einzig und allein ich selbst verantwortlich. Natürlich brauche ich mein eigenes Handeln, aber auch die Unterstützung durch die Anderen, um mein Leben zu bewahren und zu beschützen. Aber, um es zu beenden, freiwillig (d.h. wenn ich es wirklich will), bedarf es ausschließlich meines eigenen Entschlusses. Ich nehme mir mit dem Freitod „alle Möglichkeiten“ in dieser Welt. Freiwillig! Weil ich es will!
Und hier merke ich: Ich kann mir das Vorstellen. Ja, bin innerlich klar: das ist so. Nur: will ich es denn wirklich? Nein! Und jetzt beginnen die Gedanken zu kreiseln. Auf jeden Fall jetzt noch nicht!. Ich lebe doch noch viel zu gerne! Ich habe Spaß am Leben, bin einigermaßen Gesund, mach viel, lerne noch viel. Ich behalte mir einen solchen Schritt vor. Für den Zeitpunkt, wenn meine Bilanz diesen Spaß, diese Gesundheit, dieses Tun und dieses Lernen für alle noch denkbare Zukunft nicht mehr zu bieten scheint.
Ob ich dann aber noch zu entscheiden in der Lage bin? Und ob ich dann noch in der Lage sein werde, über die Vorstellung hinaus tätig zu werden, um das Ende herbeizuführen? Und ob ich es dann noch wirklich will? Wie kann ich das wissen?
Für den Moment gilt: Es ist eine schöne Vorstellung , die Freiheit zum Freitod zu haben, aber:
es ist eben für mich im gegenwätigen Zeitpunkt nur eine Vorstellung!