LF 1 (3) Die Freiheit im mors voluntari

Unablässig ist sie im leeren Gerede,
die Freiheit.
Doch du willst, dass es sie auch sinnvoll gäbe?
Die Freiheit „von“ wird ja gerne eingeklagt,
als Willkür.
Die Freiheit „zu“ wird gern vertagt.
Verantwortung würde uns dabei quälen.
Lästig, lästig.
So kommt es dann gar zu einem Freiheitsverbot,
– auch dort, wo es die freie Verantwortung doch gäbe,
beim freien Tod.
Du sollst hier nicht frei wählen.
Schauerliches vom Tod wird man erzählen.
Im Sterben seist du aller Verantwortung beraubt.
Wie falsch! Wohl dem, der auf sich selbst vertraut.
Horst

LF 2 (6) Die Bannkraft des Mythos

Religionen beruhen auf großen mythischen Erzählungen. Mag sein, dass du vieles, vielleicht sogar alles an unserem Christentum kindisch findest. Als rationaler Mensch fühlt man  sich darüber leicht erhaben.

Aber zu glauben, du seiest schlicht ein nüchterner, realistischer, an der rationalen Vernunft orientierter Mensch, der den ganzen Mythenkram hinter sich gelassen habe, ist ein allzu flotter Glaube. Mythen haben eine ungeahnte Kraft, sie scheren sich wenig um dein Denken, besetzen stattdessen deine Gefühle und deinen Willen.

Wenn du also leicht arrogant meinst, du könntest dich über die religiösen Argumente zum „sündhaften“  Suizid allenfalls ein wenig empören und hättest es im Übrigen gar nicht nötig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, bleibst du zu sehr an der Oberfläche.

Ja, es gibt gute Gründe dafür,  dass Menschen auch heute noch entschieden ihre Abhängigkeit von Gott, von ihrer Religion und von ihrer Kirche bejahen. Sie vertrauen. Aus diesem Vertrauen können sie eine große Kraft schöpfen. Das gilt es zu verstehen und zu achten.

Auch ist es ja möglich, seine Freitodabsicht mit seinem christlichen Glauben zu vereinbaren, wenngleich es hierfür bisher nur vereinzelte Stimmen gibt. Zwei Beispiele: Hans Küng,  zus. mit Walter Jens, Menschenwürdig sterben, 2009   und Frank Hellmann, Lebensintensiv, gesund und tot, in der DGHS-Zeitschrift, Humanes Leben Humanes Sterben, 2019-4.

Wir können und sollten nicht versuchen,  unser mythologisches Gepäck einfach nicht zu beachten. Die Mythen umgeben uns ringsum. Sie leben in unseren Gefühlen, oft unbewusst. (Siehe auch den separat aufgelisteten Aufsatz, Soll der Mensch in Furcht und Hoffnung leben?) Die geheimen Verführer der Werbeindustrie arbeiten zum Beispiel  natürlich mit Mythen.

Ohne das Hervorbringen von Mythen hätte der homo sapiens seine Dominanz gegenüber alle anderen Konkurrenten nie erreichen können. Seine  Mythenbildungen wurden für ihn zu einem großen Vorteil gegenüber allen anderen Lebewesen.  Deren Sprachvermögen blieb beschränkt. Sie fanden keine Worte für fiktionale Vorstellungen, für die großen Erzählungen, wie sie Gefühle thematisieren. Es fehlten die Metaphern.

Y.N. Harari, dessen Buch, Sapiens, eine kurze Geschichte der Menschheit, 2018, diese Fähigkeit zur Mythenbildung in den Zusammenhang mit einer „kognitiven Revolution“ stellt,  schreibt lang und breit über den großen Vorteil der Mythenbildung. Der entscheidende Vorteil: Erst die Mythenbildung führt zu dem  Aufbau größerer Gruppen, sicherte deren Zusammenhalt und ermöglicht eine umfängliche Kooperation.

Die Bildung von Mythen kann als ein großer geistiger Schritt verstanden werden, mit dem der Mensch begann, seine Naturabhängigkeit zu verringern. Solange die Hordenbildung, wie bei den Tieren und den anderen Frühmenschen mehr oder minder allein auf  Blutsbanden beruhte, blieb alles sehr limitiert.

Den deutlich robusteren Neandertalern fehlten offenbar die großen Erzählungen, die Deutung des Unerklärlichen  der Natur  und der über die bloße Familienbindung  hinaus bestehende gemeinsame Glaube. Wo dieser gemeinsame Glaube an ein „Höheres“, an ein großes Allgemeines, an ein Metaphysisches  nicht gegeben war, blieb nur die Gefangenschaft in der genetischen Basis ohne nennenswerte Entwicklungssprünge.

Dass der Mythos, konkreter der christliche Glaube, es ist, der uns aus der Gefangenschaft an diese irdische Welt befreit, wird ja auch heute noch intensiv vorgebracht. (Siehe den genannten Aufsatz zu Furcht und Hoffnung.)

Größere, heute ja riesengroße Korporationen treiben aufgrund ihrer Möglichkeiten zu einer immer differenzierter werdenden Arbeitsteilung ihre Produktivität voran. Die Bildung eines Gefühls der Zugehörigkeit wird möglich, ohne dass man sich persönlich kennt. Die Folge: zunächst langsam, dann immer rasanter können sich die Produktivkräfte insgesamt entwickeln. Deren geschichtliche Bedeutung lässt sich immer noch am besten bei Karl Marx nachlesen.

Die Bannkraft des Mythos, die umfangreiche Welt unserer fiktiven Vorstellungen und Gläubigkeiten, jenseits alles sinnlich und naturhaft Gegebenen, aber auch der Vorteil, dass Menschen ihre Mythen wechseln können und neue hervorbringen, führte ab 70.000 v. Chr. zu dieser Dynamik.

Mythen werden oft wie selbstverständlich von uns aufgenommen, halbbewusst, auch heute noch. Zum Beispiel der Mythos vom Nationalstaat, der Glaube an die allumfassende Lösungskompetenz der Technik, die Marktgläubigkeit, die heimliche Bewunderung von Mercedes Benz usw. usw. Alle großen Firmen, gerade auch die Multiplayer, scheuen keine Kosten, ihren Firmenmythos zu pflegen.

Das Mythische hat also auch im heutigen Leben noch eine große Bedeutung und sicherlich auch eine gewisse Berechtigung. Aber du hast auch die Berechtigung, dich vom Mythos zu distanzieren, eben auch gerade in der Frage nach dem Tod.

Aber, wie gesagt, Mythen haben es auch an sich,  mit Bezug auf das „Übersinnliche“ sich auch da in das Unnatürliche hineinzusteigern, wo dies gar nicht nötig und berechtigt ist. Ein etwas extremes Beispiel ist das Zölibat in der katholischen Kirche. Eine geistige und politische Führungselite verzichtet hier, völlig unnatürlich, auf ihre eigene Fortpflanzung.

Das Beispiel des Zölibats zeigt sehr drastisch, dass wir zwei Dinge unterscheiden müssen, nämlich den Mythos als solchen und die auf ihn folgende Lehre. Über 1000 Jahre Christentum waren bereits vergangen, ehe in der lateinischen Teilkirche innerhalb der katholischen Kirche das Zölibat verpflichtend eingeführt wurde, eine Festlegung getroffen von den damals lebenden Menschen.

Unsere heutige, zaghaft geführte Diskussion um dieses Zölibat zeigt, wie schwer es offenbar ist, eine klerikale Lehre zu revidieren, auch wenn sie deutlich nicht mehr zeitgemäß ist. Die Lehre vermag den Mythos zu einem Beton werden zu lassen.

Ich zitieren den Theologen Bernhard Lang, Emeritus der Universität Paderborn: „Lehren und mythologischen Erzählungen kommt unterschiedliches Gewicht zu. Volkstümlich und vage, erhebt der Mythos keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit. Erst in fortgeschrittener Religionsentwicklung wird der Unterschied zwischen wahr und falsch eingeführt. Dann fordert die formulierte Lehre, das Dogma, den Glauben an ihre unumstößliche Wahrheit, so im Christentum und Islam.“ Die Auslegung und Fixierung des Mythos durch die Lehre markiere „einen epochalen Einschnitt in der Religionsgeschichte.“

In einer drastischen Weise unnatürlich ist auch die klerikale Einstellung zum Tod. Der Mythos, genauer seine klerikale Auslegung, hat im Christentum den Tod seiner Natürlichkeit beraubt.

Der Tod ist weder gut, noch böse, und er beurteilt dein Leben auch nicht. Er ist kein Übel und kein Segen, er ist schlicht etwas Neutrales, indifferent und als solcher auch belanglos. Seneca hat dies unermüdlich betont und Montaigne 500 Jahre später ebenso. Der Tod führt zu einer Gerechtigkeit des Gleichmachens. Der Fromme und der Sünder, im Tod sind dann wieder beide gleich.

Kurzum: Wir werden die Mythen achten, da, wo sie eben dazu gehören und auch hilfreich sind. Aber besonders in der Frage nach unserem eigenen Tod werden wir uns vom christlichen Mythos und seiner dogmatischen Verfestigung  durch Lehre nicht manipulieren lassen. Wir werden die klerikal-autoritären Aussagen hierzu analysieren, um davon Distanz zu gewinnen.

Horst

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LF 2 (5) „Und die Bibel hat doch Recht“

Die Kirche tut sich schwer, den Suizid mit dem Verweis auf das 5. Gebot zu verurteilen. Das Gebot,  „Du sollst nicht töten“, hatte keinen Bezug zur Selbsttötung.  „Die Überlieferer des 5. Gebotes wollten vor 2700 Jahren  das friedliche Zusammenleben der Nomadenstämme in Israel, das ‚gentile Grenzrecht‘, erhalten und regeln. Deshalb benutzten sie das hebräische Wort „razach“, was ungesetzliches, heimtückisches Morden aus  niederer Gesinnung bezeichnete, und nicht die Worte „harag“ oder „mut“, was erlaubtes Töten z. B. von Tieren, im Krieg oder aus Notwehr ausdrückte.“  (Der Theologe Prof. Dr. Reinhold Mokrosch in einer Veröffentlichung der Evangelisch lutherischen Landeskirche Hannovers vom 17. 10. 2013).

Mit einem Verweis auf das 5. Gebot Gottes, das fortlaufend herangezogen wird,  ist hier also im Grunde kein glaubensfester Blumenstrauß zu gewinnen.

Bleibt nur der Hinweis auf die Kirchenautoritäten, vor allem Augustinus und Thomas von Aquin; außerdem noch die vage Rede, die Selbsttötung widerspräche dem „Friedens- Schöpfungs- und Liebeswillen Gottes.“ (Mrokosch ebenda)

Reinhold Mrokosch will immerhin zulassen, dass eine Selbsttötung  berechtigt ist, wenn damit einer Fremdtötung zuvor gekommen wird. Eine Denkfigur, die im AT auch gegeben war und die in der Antike ganz allgemein eine große Bedeutung innehatte – die Selbsttötung zur Wahrung der eigenen Ehre. Mrokosch führt als dem entsprechenden Bejahern  aus unserer Zeit Bonhoeffer, Remarque und Jochen Klepper an. Die Grenze zum ja auch kirchlich erlaubten Märtyrertod ist da allerdings sicherlich fließend.

                                                                                               Horst