Zu LF 10 Was soll denn als Wahrheit gelten?

Bevor wir uns den schwergewichtigen Einwänden gegen den selbstbestimmten Suizid zuwenden, ist ein kleiner, demütiger Blick auf unser Erkenntnisvermögen wohl angebracht. Die klerikalen Einwände gegen den „Selbstmord“ fußen ja letztendlich auf einem Wahrheitsverständnis, das sich von einer Wahrheitsoffenbarung herleitet. Es ist eine Glaubenswahrheit und an ihr soll hier auch nicht herumgeätzt werden. Im gesellschaftlichen Diskurs, einem Diskurs in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft, kann aber ‚Wahrheit‘ nur aus einer Vereinbarung hervorgehen. Dies gilt es im Folgenden herzuleiten und zu begründen.

Unbestreitbar leben wir  als Getriebene von einer Vitalkraft, es ist jener ungeliebte Wille von dem Schopenhauer schrieb.  Es ist die große Evolution des  Lebens. Sie bringt Individuen hervor. Verständlicherweise können Indivuduen zunächst einmal nur individuellen Wahrheiten haben.

Eine Alternative ist die Glaubensgemeinschaft. Einem  „Seher“  folgt eine Gemeinschaft von „Einsehenden“,  wobei der „Seher“ aber auch nur  seine Wahrnehmungen als  VORSTELLUNGEN weiter geben kann und das eintritt, was eintreten muss: die schlichte Übereinkunft in der jeweiligen Gruppe, autoritativ etwas als „wahr“ anzunehmen und diese „allgemeine Wahrheit“  affirmierend nach innen und außen zu behaupten.

                                                                                                                                                                                                                 

Das, auch unser, Leben  steht allerdings wie gesagt unverrückbar eben unter der  Notwendigkeit der INDIVIDUATION.  Greifbar gibt es nur das einzelne Leben im Hier und Heute. Erst im Tod hauchen wir unsere Individuation aus, lösen uns auf.  Von dieser Basis, von dieser anthropologisch-biologischen Grundlage aus,  muss jede Frage nach Erkenntnis  ihren Ausgang nehmen. Es sind immer nur einzelne Individuen, die Erkenntnisse produzieren. Kein Individuum kann für sich allein eine „absolute Wahrheit“ verkünden, die dann in einer die Individuation umwerfenden Weise für alle anderen Individuen gleichermaßen zu gelten hätte. Allgemeine Wahrheiten, so es denn solche gibt, lassen sich nicht individuell erbrüten.

Natürlich gibt es einzelne (partielle) Entdeckungen in naturwissenschaftlichen Bereich und es gibt  Ideen und substanzielle Denkanstöße in den Humanwissenschaften;   weit unterhalb einer umfassenden,  „absoluten“ Wahrheit sind sie in einer erfreulich großen Zahl zu finden. Lediglich innerhalb der Theologie wird eine  „absolute“  Wahrheit vorkommen können, als eine Offenbarung. In unserem Bereich des  Humanen sind wir darauf angewiesen, unsere  „Erkenntnisse“  zunächst einmal nur als individuelle Erkenntnisse zu sehen.  Und so werden wir versuchen, sie im Wege der Kommunikation zu verallgemeinern. Oder als einzige Wahrheit auszugeben.

Der uns zunächst mögliche Erkenntnisprozess beginnt ja mit der individuellen WAHRNEHMUNG.  Das konkrete Einzelwesen  (philosophisch gesagt das  Subjekt ) macht eine sinnliche, oder eine übersinnlich-geistige Wahrnehmung und das als ein Einzelnes.  Diese  Einzelwahrnehmung  kann, auch als eine unsere fünf Sinne übersteigende Geistschau,   keine umfassende , keine allgemeine Wahrheit oder dergleichen sein,  weil  es ja selbst unbestreitbar konkret  erst einmal ein  Einzelnes ist, welches  die Wahrnehmung  macht.

Würden wir auf dieser Ebene stehen bleiben und hier bereits Wahrheitsbehauptungen aufstellen,  gäbe es ein Kommunikationschaos .

Unsere Wahrnehmungsinhalte werden also im Bewusstsein überhaupt erst verfügbar, wenn  wir  VORSTELLUNGEN produzieren  ( vgl. wieder Schopenhauer ff.). Wir kommunizieren nicht über Wahrnehmungen sondern über unsere Vorstellungen. Wenn ich sage, dieser Baum ist grün, dann bin ich ja  schon nicht mehr im unmittelbaren Wahrnehmungsprozess, sondern formuliere  eine Vorstellung und ein Urteil über den Baum aufgrund  meiner individuellen Verarbeitung der Wahrnehmung.

Auf dieser sehr einfachen Ebene mögen andere das Gleiche tun. Wir kommunizieren sodann unsere Vorstellung von der Farbe des Baumes und kommen zu einer „Wahrheits“-Übereinkunft.  Unsere „Wahrheiten“ sind demgemäß Wahrheits“-Übereinkünfte,  bzw. VEREINBARUNGEN, wie sie sich in dem langen Prozess unserer Evolution herausgebildet haben. Im angeführten  Fall des grünen Baumes stellt sich die Wahrheitsübereinkunft rasch ein, weil der evolutionäre  Prozess der Übereinkunft auf dieser basalen Ebene nahezu abgeschlossen ist. Was an diesen Wahrheitsübereinkünften  objektiv oder gar absolut „wahr“  ist, – welches individuierte Einzelwesen, könnte das beurteilen?

Zurück also zum Individuum:  Die im subjektiven Empfinden u. U. bestehende Identität  zwischen dem  Wahrnehmungsinhalt und  dem  Wahrnehmenden wird  durchbrochen und aufgehoben  im zwangsläufig eintretenden Vorstellungsprozess.  Das Subjekt,  (i.e. das einzelne menschliche  Lebewesen) formt die Wahrnehmung zu einem Wahrnehmungs–OBJEKT,  zu einem Objekt  seiner VORSTELLUNG. Erst über diese Vorstellungsobjekte können dann wir kommunizieren, dank unseres Sprachvermögens.

Es sei denn, wir lassen alle menschliche Demut hinter uns und erklären uns  als  ein überindividueller Gott mit einer überindividuellen Wahrnehmung und Vorstellung.  Wir erklären  uns mit dem Großen und Ganzen , mit dem Absoluten (das es  wahrscheinlich gar nicht gibt) in vollem geistigen Hochmut  identisch. Die Subjekt-Objekt-Spaltung  sei aufgehoben, und die vorgeblich „ganze Wahrheit“ breche hervor. Diese Hybris stand bei den alten Griechen unter Todesstrafe. Uns Heutigen erscheint sie eher lächerlich; wir können sie beiseitelassen. Ein Hang zur überindividuellen Letztbegründung von „wahren“ Aussagen ist aber geblieben.

Der Fragenkomplex, wo und wie die Wahrnehmungsinhalte und unsere Vorstellungen sich konstituieren, kann bei diesem Gedankengang   ausgeklammert und  unbeachtet bleiben. Es ist das Kategorienproblem und es sind die a priori  Fragen, wie sie Kant und später auch Schopenhauer umtrieben. Natürlich ist unser Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen  unaufhebbar auch durch Kategorien prinzipiell begrenzt,  wenn auch weniger als Kant noch glaubte.

Wir selbst also sind es, die das „Objekt“  produzieren und damit die Subjekt-Objekt-Spaltung. Weil wir im Prozesse unserer individuierten Wahrnehmungsverarbeitung  gar nicht anders können und weil wir „darüber“ kommunizieren wollen und müssen. Wir kommunizieren miteinander nicht über unsere Wahrnehmungen, sondern über unsere Vorstellungs-Objekte,  bei deren Entstehung Wahrnehmungsinhalte am Anfang stehen können, nicht müssen.

Ebenso  können die identeren Sonderfälle im Bereich des Ästhetischen und der Phantasie,  wie  auch der große Bereich des schlussfolgernden Denkens übersprungen werden, ein Denken,  das mit Wahrnehmungs- oder mit Vorstellungsaxiomen beginnt.

Es ist auch nicht notwendig für den hier verfolgten Gedankengang zu Erkenntnis- und Wahrheitsfragen diese Gedankengänge in einen  metaphysischen Großkontext zu stellen und eine metaphysische Herleitung der „Vernunft“ zu bemühen (siehe Feyerabend und Rorty). Basal wichtig ist  nur,  den individuelle Charakter von beiden festzuhalten,   eben der Wahrnehmung und Vorstellung, weil wir naturgemäß Einzelwesen sind. In den Naturwissenschaften wird versucht, diesem Ärgernis unserer individuellen Beschränktheit auf vielfältige Weise Rechnung zu tragen.  

Nahezu triebhaft produziert das Individuum auch Vorstellungen, denen  gar keine unmittelbar nachvollziehbare und  korrespondierende Wahrnehmung zugrunde liegen und  denen vielleicht gerade deshalb eine exklusiv aufgefundene allgemeine „Wahrheit“  unterstellt, worauf  dann nahezu zwanghaft die Ausbildung von Systemen erfolgt, in denen die Argumente gegenseitig sich stützen. Dieser Sprung ins Allgemeine zeigt, wie uneingestanden und schmerzhaft wir die Individuation und unsere Unzulänglichkeit als Einzelwesen erfahren.  Kopfgeburten ins vorgestellte  Allgemeine.

Als Vereinzelte  wollen wir natürlicherweise,  dass unsere Vorstellungen eine zustimmende Resonanz bei den anderen erfahren, wir wollen  in der „Wahrheit“ leben, die ja wohl per se etwas Gemeinsames dann sein muss. Bereits, wenn nur zwei Menschen sich gegenseitig etwas erzählen, sind sie auf der Suche nach einer sie verbindenden Wahrheit. Niemals aber erreichen sie eine absolute Wahrheit, die über ihnen stehen würde. Die Wahrheit bleibt  ein ‚Wechselbalg‘, wie es Montaigne treffend ausgedrückt hat. Mit der Renaissance erfolgte der Schritt in die Moderne ohne einen Wahrheitshimmel über uns.

Hier nun beginnt der ganze wechselseitige Prozess der Überredung. Wir machen unsere Vorstellung anschaulich, „beweiskräftig“ etc. – und vergessen dabei, dass die Adressaten unserer Rede ja  ebenso Einzelwesen sind, nur assoziieren (oder nicht) können. Wir vergessen zudem, was die Sprachphilosophie und Kommunikationsanalyse herausgefunden hat. Wir vergessen z. B. auch die Hermeneutik des Verstehens. Wenn wir uns nicht verblenden und nicht sektiererisch werden wollen,  müssen unsere Assoziationen am Prozess der Vereinbarungswahrheiten orientiert bleiben.

Paul Feyerabend ist beizupflichten, wenn er zu dem Ergebnis kommt,  selbst der Bereich der (natur)wissenschaftlichen Methodik  beruhe auf Vereinbarungen.  Auch unsere Erkenntnismethoden  werden im Wege der Übereinkunft gefunden und unterscheiden sich nicht prinzipiell von unseren übrigen Vereinbarungswahrheiten. Selbst im engeren Wissenschaftsbereich  gibt es für die Vereinbarungsprozesse von „Wahrheit“  nicht die einzig richtige, „wahre“ Methode.

Im Gegensatz zum späteren Descartes wusste bereits Montaigne, dass  alles, was wir als „Wahrheit“ bezeichnen nur eine Vereinbarung sein kann, dass es mithin auch keine einzig wahre  Methode für diesen Vereinbarungsprozess  gibt. Gäbe es diese einzig wahre Methode, hätten wir tatsächlich einen Ausgangspunkt für „die Wahrheit“ gefunden. Selbst  Raimund Popper musste, ungeachtet seiner Betonung des Falsifizierens  im Kern daran glauben, die „wahre Wahrheit“  könnte letztlich aufgesucht werden, wenngleich er dies in seinen Texten nur eher versteckt niederschrieb. Sein Glaube an die einzige wahre Methode verführte ihn dazu.

Das viel herumgereichte „anything goes“ ist gleichwohl eine  unzulässige Verkürzung der Problematik. Die Prozesse unserer Vereinbarungen sind langwierig, eben evolutionär,  und sie lassen sich mit laxen Parolen wie der vom „anything goes“ nicht konterkarieren. Sie verdienen Respekt.

Immerhin kann man auf  langen Wegen, so sie denn mit Ernst betrieben werden,  ja  zu pragmatischen Vereinbarungswahrheiten kommen. Pragmatisch etwa im Sinne von Dewey, Peirce und Rorty, also auf Konventionen aufbauend und fortlaufend veränderbar.

 So gibt es gibt im Politisch-Gesellschaftlichen z. B. den Grundkonsens, an welchem wir alle festhalten wollen und sollen.  Auch dieser ist aber nicht unverrückbar,  er bleibt im Prozess seiner Fortentwicklung. Es sind die Wege des Filterns und Ausfilterns im Erkenntnisprozesss, wobei der jeweilige Zeitgeist seine Wirkung entfaltet und es  auch einen zumindest partiellen Paradigmenwechsel (Kuhn) geben kann.

Wie gesagt, „Wahrheit“  ist somit das Produkt eines evolutionären Vereinbarungsprozesses. Dies gilt auch für den Bereich der Mythen, Religionen, Philosophien und Weltanschauungen, nur dass es hier  zu demütig-gelassenen  Wahrheitsvereinbarungen noch nicht gekommen ist und die heftigen Kämpfe um die „eine Wahrheit“ weiter toben. Jede dieser Weltanschauungen möchte dahin kommen,  wo die einfacheren Vereinbarungswahrheiten bereits angekommen sind, in die allgemeine „Wahrheits“- Anerkennungen.

Der evolutionäre Prozess der Wahrheitsübereinkünfte  kann fortentwickelt werden. Glücklicherweise gibt es  bei der Logik und auch beim Common Sense   überindividuelle, transzendentale  Gemeinsamkeiten in unserem Denkvermögen, die genutzt werden können, die Flut der möglichen Vorstellungen kommunizierbar und vereinbarungsfähig zu machen. 

Unfruchtbar  bleibt es,  diesen Prozess der Wahrheitsübereinkünfte,  als einzelner „Seher“  oder „bahnbrechender“  Philosoph oder als eher esoterische Gruppe generell in Frage zu stellen. Wir sind nolens volens an die Science Community gebunden. Wir müssen zusammen leben, Kritik am Mainstream hin oder her.

Sinnvoll arbeiten kann man an dem allgemeinen Vereinbarungsprozess nur, indem man darum bemüht ist,  ihn konkret weiter zu entwickeln, nicht indem man gegen die im Wege der Vereinbarung  getroffenen „Wahrheiten“  pauschal und missionarisch  eine eigene (Sonder)wahrheit   in umfassender Weise reklamiert. Es gilt,  am allgemeinen Vereinbarungsprozess mitwirken zu können und zu wollen, durchaus  in voller Kritik. Hochmütig z.B. allen anderen  ein „falsches Bewusstsein“ zu bescheinigen, weil sie nicht fähig und willens seien, die eigene,  die „neue Wahrheit“ zu  begreifen und zu akzeptieren, ist kindisch.

Individuen sind bleibend unzulänglich, alle Menschen sind indes Individuen.  Die Naturwissenschaften haben nun aus diesem Dilemma von Wahrnehmung  und Vorstellung einen pfiffigen Ausweg   gefunden,  den der  REDUKTION.  Zunächst wird das Spektrum der Wahrnehmung  reduziert (Beobachtung statt Wahrnehmung,  Experiment, Wiederholbarkeit,  Erfahrung).  Sodann  werden alle möglichen Vorstellungen kondensiert auf die Denkfigur der Hypothese und Theorie, ausgedrückt möglichst in der gemeinsamen Sprache der Mathematik.

Es ist also ausgehend von einer auf das Messen reduzierten Wahrnehmung ein Gleichschaltungsvorgang  in unserem  Vorstellungsvermögen,  nicht übertragbar auf den „Rest“ außerhalb der Reduktion. So auch Galilei: „Alles messen, was messbar ist und den Rest weglassen“.

Mithin ist undenkbar, auf naturwissenschaftlichem Wege, etwas  „beweisen“ zu wollen,  was man vorher nicht einschneidend reduziert hat. Die Denkfigur von der „ganzen Wahrheit“, die das ganze „Ding an sich“ einschließen müsste, gibt es im naturwissenschaftlich-empirischen Kanon nicht. Eine solche ganzheitliche Wahrnehmung ist auf naturwissenschaftlichem Wege nicht möglich.  Anhänger eines Holismus mögen dies bedauern, hielt doch bereits Aristoteles fest, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile. 

Bekanntlich ist besonders die Physik in Bereiche vorgestoßen, die dem klassischen faktenorientierten Verfahren, Vermutung – Beobachtung – Experiment – Messung – Wiederholung und  nach folgende Extrapolationen nur noch teilweise zugänglich sind. Ebenso wie bei der Mathematik, z. B. der Chaostheorie, stellen sich hier Verunsicherungen ein bezüglich unserer transzendentalen Möglichkeiten, im Wege der Kommunikation zu Vereinbarungswahrheiten zu kommen. Das ist irritierend, und befeuert die Spekulation.

Im Bereich der Philosophie hat  das spekulative Denken von jeher seinen Platz behaupten können und Anregungen hervorgebracht.

Noch einmal zu dem schwachen Ergebnis, wie es allein schon auf der Ebene der Wahrnehmung uns unzulänglich sein lässt:

Die Wahrnehmungsflut, wie sie über alle Sinne und als Inspirationen über uns hereinbricht, ist viel  größer als unser Gehirn verkraften kann. Nachweislich reagiert unser Gehirn darauf so, dass sofort eine Selektion eintritt. Hinzu kommt, dass wir ebenso sofort diesem selektierten Wahrnehmungsinhalt  vom Verstand und von den Emotionen her etwas Subjektives hinzufügen. Dies ist notwendig so, weil wir nur so unser Ich, unser Selbst konstituieren können (vgl. Kant).

Wir können  bei der Wahrnehmung als solcher nicht stehen bleiben, sondern reagieren auf sie,  wie gesagt, durch subjektive Selektionen und Beifügungen, um dann durch eine nochmalige Individuation  ein Vorstellungsobjekt zu formen.  Und das sofort, weil wir bereits am Beginn des Prozesses nicht absichtslos sind. Hier ist der zunächst etwas merkwürdig anmutende Satz des Physikers Richard Feynman angebracht: “Wir sind nur der Lage  das zu begreifen, was wir herstellen können“.  Dies gilt eingeschränkt sogar noch für unsere Verfahren der Beobachtung und des Experiments, wie entsprechende Studien nachgewiesen haben.

Aber auch das, was sozusagen von außen  als Wahrnehmungsinhalt auf uns zukommt,  ist nicht gleichbleibend ein und dasselbe. Seine Konstitution wechselt. „Licht“ sehen wir z. B. nur, wenn/weil wir innerhalb der Erdatmosphäre sind.

Wahrnehmungsinhalte sind  nicht feststehend, sie oszillieren. Sie zeigen uns zuweilen ihr Janusgesicht. Wir können dies im Bereich des Virtuellen auch  spielerisch schön  simulieren.

Wenn Physiker z. B. im Messinstrument eine „Strahlung“ registrieren, was haben sie da in der Hand? Was wird das Ergebnis ihrer Interpretation sein? Wieder ergibt sich der Übergang in die Vorstellung und auch hier zeigt sich dann die menschliche Disposition, Vorstellungen zunächst subjektiv zu formen. Erst daraufhin beginnt der Vereinbarungsprozess.

Die „Wirklichkeit“ außer uns spielt mit uns ein Spiel und wir fügen diesem Spiel in unserem Inneren  ein zweites Spiel hinzu. „Über alles ist Schein gebreitet“, (Xenophanes).

Die „Wirklichkeit“ ist in ihrem Wirken ohnehin nur ausschnitthaft erkennbar, bleibt uns solche verschlossen. In ihrer  Komplexität bleibt sie für uns verhüllt und unvorstellbar, stets im Wandel, allein schon auf  der Erde mit einer gigantischen Zeitdimension versehen und gibt sich in Grenzbereichen oszillierend, (vgl. Quantenphysik,  vgl. z. B. Welle oder Teilchen, aber nie beides zugleich).  Unser Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen bleibt seinerseits begrenzt, sowie durch unsere  Individuation zersplittert und  ebenso im steten Wandel  begriffen.

Wir schreiben also eine Geschichte der Vereinbarungswahrheiten.

Mit unseren Wahrheitsübereinkünften  versuchen wir, uns Halt zu verschaffen. Diese, unsere vereinbarten Wahrheitsvorstellungen, haben für unseren sozialen Zusammenhalt ja eine hohe Bedeutung. Unsere Sehnsucht nach „objektiven“ Wahrheiten, oder gar nach „der“ Wahrheit schlechthin ist groß.  Zuweilen schließt sie auch Phantasievorstellungen ein, sofern wir diese brauchen, um unser Zusammenleben zu stabilisieren. Zum Beispiel die Phantasievorstellung,  Geld an sich (der Geldschein) hätte einen Wert., aber da sind wir wieder bereits im Bereich des Mythischen und seiner Bannkraft (s. LF 2 (6) ).

Natürlich gibt es daneben auch den Bereich der besonderen,  der individuellen „Wahrheiten“.  Vielleicht ist er gut charakterisiert mit dem Satz:  „Nach meiner festen Überzeugung   gilt, dass …“  Für die jeweilige einzelne Person haben diese individuellen Vorstellungen einen hohen Wahrheitsgehalt, zum Beispiel als Wertentscheidungen,  als Glaubenserfahrungen,  ja sogar als Welt- und Menschenbilder.  Jede(r) wird zum Beispiel eine individuelle Vorstellung davon haben, worin seine/ihre  „wahre“ Würde als Mensch besteht.

Das Problem besteht natürlich darin, dass diese rein individuellen „Wahrheiten“  in den sozialen Prozess des Ringens um Vereinbarungswahrheiten nicht unmittelbar eingebracht werden können, auch deshalb nicht, weil sie  zum Teil auch vorsprachlicher Natur sind (vgl. Wittgenstein, Searle).   Innerhalb des allgemeinen gesellschaftlichen Rahmens sind sie indes durchaus zu achten.

Schwierig wird es, wenn eine einzelne Person ihre „Wahrheit“ aus dem Bereich des Individuellen partout verallgemeinern will.  Solange sie sich indes ausdrücklich von einer individuellen Wahrheit getragen gibt und dabei keine unserer gültigen Vereinbarungswahrheiten grundlegend in Frage stellt, kann ihr mit einer aktiven Toleranz wohlwollend begegnet werden. Warum sollten  private „Wahrheiten“ unzulässig sein?

Unsere unentwegte Produktion von individuellen Vorstellungen hat  allerdings zugleich eben einen eher psychologischen als logischen Charakter. Hier zeigen sich u.a. zwei Grundlinien:

  1. Unser Hang zu Ignoranz; unangenehme Vorstellungen lehnen wir zumeist ab.
  2. Unser Trieb zum Lebensoptimismus, wir aktivieren in uns Hoffnungen auf Besseres, auf „Wahres“.

Damit geraten wir in den größeren Rahmen von Erkenntnis und Interesse (s.Habermas)  Dieser Rahmen ist zunächst einmal als ein individuelles Erkenntnisproblem gegeben, steht aber  weiter ausgreifend  im Geschichtsprozess unserer Erkenntnisinteressen.

Fragwürdig ist und bleibt es, auch mit dem Blick auf das soeben unter a) und b) Festgehaltene,  dass wir,  wie seit der Kopernikanischen Wende vorherrschend geschehen,  aus den genannten Unmöglichkeiten einer „objektiven Wahrheitsfindung trotzig und einfach uns auf einen allein anthropozentrischen Erkenntnisstandpunkt als eine „Lösung des Problems“ versteifen. Auf der individuellen Ebene wäre dies dann der Solipsismus.

Es spricht vieles dafür,  dass das Moment der Vereinbarung, auf welches wir bei der Suche nach „Wahrheit“ verwiesen sind, eine grundlegende Bedeutung für das natürliche Leben schlechthin hat. Solipsismus und Anthropozentrismus sind Standpunkte, die nicht nur in erkenntnistheoretischer Sicht zu kritisieren sind, sondern auch weil sie ethisch, sozial und ökologisch den Prozess der Vereinbarung nicht wirklich anerkennen können. Dies wäre zu vertiefen, was hier aber unterbleiben soll.

Die Natur hat uns nicht das Recht gegeben, uns zum Nabel der Welt zu erklären, nur deshalb, weil wir sonst die Welt in „Wahrheit“ nicht  erkennen  könnten. Wir sollten uns mit der Natur vereinbaren in Demut und uns ins rechte Verhältnis zu setzen.

Was  folgt aus der Erkenntnisfrage für die persönliche Geisteshaltung?

Da wir unser Leben im Rahmen der gesamtmenschlichen Wahrheitsübereinkünfte führen, macht eine individuelle, oder gruppenspezifische „Wahrheits“findung mit dem Anspruch auf  Verallgemeinerung keinen Sinn. Regelmäßig wird hier gegenüber dem mühsamen Prozess, Vereinbarungswahrheiten zu erarbeiten, intolerant eine „höhere“, oft auch eine „absolute“ Wahrheit für sich in Anspruch genommen.

Vordringlich geht es bei der Wahrheitsfrage aber gar nicht um eine „Wahrheit an sich“.  Eine solche gibt es im Horizont des Menschlichen nicht. Vordringlich ist der soziale Zusammenhalt, das friedliche Miteinander, die demütige Bereitschaft, sich in den Geschichtsprozess der Arbeit an Vereinbarungswahrheiten einzufügen, die gemeinsame Sprache zu finden, naturverträglich zu bleiben.

Am Beginn des Textes wurde angedeutet, wie sehr Schopenhauer mit Entlehnungen aus dem Hinduismus das Faktum der Individuation bedrückte. Heute wissen wir mehr über die psychologischen Formationen und Deformationen innerhalb der individuellen Psyche, auch über die Sehnsucht,  mit dem Großen und Ganzen wahrheitsgemäß identisch zu sein.

Es ist nicht leicht sich  selbstkritisch in Frage zu stellen, sich klein zu machen, auf eine Erlösung  aus der individuellen Vereinzelung zu verzichten, demütig zunächst einmal das Vorfindliche anzunehmen, um dann in einem zweiten Anlauf an seiner Verbesserung  mitzuwirken. Leichter, verführerischer ist, von konstatierten „Wahrheiten“ auszugehen.

Der Hochmut der geistigen Vermessenheit ist eine Falle, besonders für edle Gemüter mit Erlösungsabsichten. Aktive  Toleranz und  pyrrhonische Urteilsenthaltung sind hilfreich. Und so erheben wir unser Stimmchen im Konzert der menschlichen Kommunikation, versuchen das Positive zu verstärken (z. B. das Tugendbewusstsein) und  die vielen Fehlentwicklungen zu kritisieren.

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