Zu LF 4 (2) David Hume und das Abschiednehmen

Neben den noch aufzugreifenden rationalen Gründen, die für den Freitod sprechen, sind es vor allem die Stimmen der Philosophen, die dich in deinem Vorhaben bestärken können. Unter diesen Philosophen,  die  positiv zum Freitod eingestellt sind, soll David Hume hier in der Leitfrage 4 einmal vorab angeführt werden,  weil er einen besonders des Nachdenkens werten Text verfasste.

Hume lebte und schrieb am Beginn der Aufklärung, dem erste großen Anlauf, die Autorität der Kirche grundlegend in Frage zu stellen. Er starb 1776, achtundzwanzig Jahre vor Kants Tod. Kant konnte sich also ausgiebig mit Hume beschäftigen und tat dies auch, ohne dass er den nüchternen, pragmatischen, am Common Sense orientierten Ansatz Humes übernommen hätte.

David Humes Aufsatz, Of Suizide, ins Deutsche leider mit ‚Über den Selbstmord‘ übersetzt, sowie einige weitere religionskritisch Essais erschienen erst nach seinem Tode. Er hatte es nicht gewagt, diese kirchenkritischen Gedanken zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Die Macht der Kirche war allgegenwärtig.

Gleich zu Beginn seines Aufsatzes hebt er hervor, dass nur die Philosophie „das allein wirksame Gegengift gegen Aberglauben und falsche Religion“ bereitstellt. Der Aberglaube und mit ihm gleichzusetzen die orthodoxen  Glaubensdiktate seien ein so großes Gift, dass  eine tüchtige und nüchterne Lebensführung und unser sogenannter gesunder Menschverstand allein  nichts ausrichten könnten.

Es ist dies eine Aussage  Humes,  die leider auch heute noch ihre Berechtigung hat.  Lebenszugewandte und lebenstüchtige Menschen, die im Alltag ihrem Verstand durchaus vertrauen,  sind zumeist dann doch nicht in der Lage und wohl auch nicht willens, ihren orthodoxen Glauben und ihren Aberglauben  abzulegen. „Hat aber gesunde Philosophie einmal die Herrschaft über den Geist gewonnen, dann ist der Aberglaube tatsächlich ausgeschlossen…“ Mag sein, dass Hume hier etwas zu optimistisch war, aber außer der Philosophie und ihrer beharrlichen Arbeit am Begriff  sowie am vorbehaltlosen Begreifen steht uns als „Gegengift“ wohl nichts anderes zu Verfügung.

Die erste philosophische Frage, die sich Hume nun vorlegt, ist die, ob denn der Freitod tatsächlich dem Willen Gottes widerspricht. Es ist dies eine Frage, die                               auch heute noch die Gemüter zu erregen vermag. Wir haben ‚Gott‘ noch immer in unserem Gepäck.

Humes Gedankengang ist nun der folgende: Gott hat alles erschaffen und uns in seine Schöpfungsordnung gesetzt, auf dass wir in ihr tätig werden. Wohlgemerkt, es ist eine Ordnung, gesetzmäßig eingerichtet. Allen  Lebewesen und besonders uns Menschen wird indes innerhalb dieser natürlichen Ordnung ein freier Bereich eigenen Handelns zugestanden.  Das, was wir können, können wir auch eine Tat werden lassen, auch dann,  wenn das Gesamtgefüge dadurch eine Veränderung erfährt. Gott greift da niemals ein, es ist kein Fall bekannt, wo er dies jemals getan hätte.

Hume zieht bei seiner Argumentation die Bibel nicht ausdrücklich heran, aber es wird klar, dass er nicht mehr Jahwe, den Gott des Alten Testaments im Auge hat. Jahwe regierte sein Volk Israel noch sozusagen nach Lust und Laune unmittelbar, er griff ein. Der Gott des Neuen Testaments übt keine unmittelbare Gottesherrschaft mehr aus, er belässt es bei der natürlichen Ordnung.

Zu dem Handlungsoptionen, die Gott dem Lebewesen Mensch gegeben hat, gehört auch die Fähigkeit, sich individuell selbst töten zu können. Warum aber sollte Gott dem Menschen etwas verübeln, was er ihm als eine Handlungsfreiheit selbst eingeräumt hat?  Oder anders gesagt: Mit einem unendlich geduldigen Schweigen nimmt Gott hin, wie wir immer mehr gegen die ‚Gesetze des Lebens‘ verstoßen, warum sollte ihn dann ausgerechnet unsere individuelle, also auf das Ganze gesehen folgenlose Selbsttötung überhaupt beschäftigen?

Zu Humes Zeiten galt der ‚Selbstmord‘ als ein Verbrechen, nicht nur innerhalb der kirchlichen, sondern auch als Straftat im Bereich der staatlichen Gesetze. Wie kann aber etwas ein Verbrechen sein, wenn ich tue, was mir Gott doch greifbar erlaubt hat und mit dem ich unmittelbar niemand schade? Hume: „Meint ihr, dass ich gegen die Vorsehung murre oder meine Erschaffung verwünsche, weil ich aus dem Leben gehe und einem Dasein ein Ende mache, das mich elend machte, wenn ich es fortsetze? … aber ich danke der Vorsehung sowohl für das Gute, das ich genossen, als für die Macht, womit sie mich ausgestattet, den drohenden Übeln mich zu entziehen.“

Der Tod eines einzelnen Lebewesens, eben auch der Tod eines einzelnen Menschen, ist innerhalb der kosmischen Zusammenhänge, innerhalb der göttlichen Schöpfungsordnung nach Hume offensichtlich ja auch belanglos. „Wenn ich tot sein werde, werden die Elemente, aus welchen ich zusammengesetzt bin, noch ihren Dienst in der Welt tun und in der großen Werkstatt von gleichem Nutzen sein, als da sie dieses individuelle Geschöpf bildeten… Die eine Veränderung  ( der Suizid) hat für mich größte Wichtigkeit, für das Weltall nicht.“

Wenn nun also mein Freitod für die kosmische Weltordnung belanglos ist und wenn auch nicht unterstellt werden kann, dass er gegen Gottes Willen und seine Schöpfungsordnung verstößt, so bleibt indes noch das sog. Gesellschaftsargument, wie es auch bei Leitfrage 2 als ein bedeutender Suizid-Einwand aufgegriffen wird. Es sei meine Pflicht in einem tätigen Leben der Gesellschaft, meinen Mitmenschen, zu dienen. Ich sei eben nicht der alleinige Souverän über mein Dasein oder Weggehen, sondern ich sei eingebunden in soziale Zusammenhänge, denen ich mich nicht selbstherrlich entziehen dürfe. Hume schreibt dazu:

„Ein Mensch, welcher sich aus dem Leben zurückzieht, fügt der Gesellschaft kein Leid zu;  er hört bloß auf, ihr Gutes zu tun, was, wenn es ein Unrecht ist von der geringsten Art ist. – Alle unsere Verpflichtungen, der Gesellschaft Gutes zu tun, scheinen eine Art von Gegenseitigkeit einzuschließen.  Ich empfange die Wohltaten der Gesellschaft und daher bin ich verpflichtet, ihre Interessen zu fördern; wenn ich mich aus der Gesellschaft aber überhaupt entferne, bin ich dann noch gebunden?  Doch zugestanden, dass unsere Verpflichtung Gutes zu tun, beständig dauerte, so hat sie doch Grenzen: Ich bin nicht verpflichtet der Gesellschaft ein geringfügiges Gutes zu tun auf Kosten eines großen Schmerzes meinerseits, weshalb sollte ich also wegen eines nichtigen Nutzens, den die Gesellschaft vielleicht von mir noch erlangen könnte, ein elendes Dasein verlängern?  … Aber man setze den Fall, dass es nicht mehr in meiner Macht steht, das Interesse der Gesellschaft zu fördern, dass ich ihr eine Last bin, dass mein Leben eine andere Person verhindert, der Gesellschaft viel mehr zu nützen, in solchem Fall muss mein Verzicht auf das Leben nicht bloß schuldlos, sondern löblich sein. … Dies ist dann der einzige Weg, auf welchem wir der Gesellschaft nützlich sein können, indem wir ein Beispiel geben, dessen Nachahmung  jedermann seine Chance für glückliches Leben erhält und ihn von Gefahr und Elend wirklich befreit.“

Mit diesem letzten Satz aus dem Zitat, deutet Hume an, dass er den Suizid bereits für die Lebensphase als berechtigt ansehen will, in der die Sterbesituation, „das Elend“, noch nicht unmittelbar gegeben ist. In die Schweiz zu fahren, oder gefahren zu werden, wenn man bereits halb tot ist, macht für einen Bilanzsuizid keinen Sinn. Es ist dies ein Suizid aus Verzweiflung.

Darin aber liegt gerade der Kulturwandel, vor dem wir stehen, und Hume hat ihn sensibel  vorweggenommen. Christian Schüle, Wie wir sterben lernen, 2013, schreibt: „Kulturhistorisch betrachtet ist in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren eine kleine Revolution geschehen: Der Mensch von heute lässt sich seinen Tod nicht mehr aus der Hand nehmen. Er denkt Sterben, Tod und Trauer neu.“

Das klingt etwas pathetisch, aber  wir müssen lernen, uns vom Leben zu verabschieden, wenn das Leben droht, überlang zu werden. Dieses  überlange Leben, wie wir es heutzutage so zahlreich vorfinden, mit all seinen Gebrechen und seinen Belastungen,  macht keinen Sinn, weder individuell noch gesellschaftlich noch auch in einer politisch-ökologischen Perspektive. Wir müssen weg von der Verdrängung unserer Endlichkeit,  „sterben lernen“ bedeutet insofern die Rückkehr zum menschlichenMaß.

Zweifellos ist jede(r) Einzelne, verpflichtet, seiner Familie, seinem Umfeld, der Gesellschaft insgesamt, dem Staat „Gutes zu tun“, wie Hume es nennt. Verdankt er doch diesen sozialen Zusammenhängen sein  Leben in seiner ganzen Entfaltung. Wir stehen in einem sozialen Wechselverhältnis, das uns verpflichtet. Juridisch lässt sich dieses ‚Gesellschaftsargument‘ so fassen, dass den Individualrechten, die wir haben, Solidarpflichten zur Seite stehen.

So formuliert es auch Manfred von Lewinski, Selbstbestimmt sterben können, DGHS-Schriftenreihe Nr. 15. Er führt aus: „Sowohl ökonomisch als auch moralisch steht der einzelne Mensch in der Gesellschaft, in der erlebt, in einer Solidarschuld für all die Leistungen, die sie für ihn erbracht hat und erbringt. … In unserer Verfassung hat sich dies zwar nicht zu einer Pflicht des Einzelnen zum Leben verdichtet, wohl aber zu einer verfassungsimmanenten Erwartung.“ (S.17)

Also ist dein Suizid ein deutlicher Verstoß gegen unsere Rechts- und Sozialpflichten, also ist er ein „Verbrechen“ wie zu Hume Zeiten, aus dem man sich nicht herausreden kann?  Nein, schreibt v. Lewinski und verweist in dieser Hinsicht lobend auf den § 217 StGB. Dort wird die „Selbsttötung“ als solche indirekt als ein Selbstbestimmungsrecht anerkannt. Der Paragraph 217 „hat dem Einzelnen vielmehr ein Selbstbestimmungsrecht auch im Sterben zugebilligt und seinen Angehörigen und ihm nahestehende Personen zugestanden, ihn dabei begleiten zu können, ohne sich dabei strafbar zu machen.“   (S. 18)

In summa, du hast gemäß unserer Verfassung ein Recht auf Leben, dass der Staat gemäß GG Art. 2 schützen und fördern soll. Zugleich bist du eingebunden in einen rechtlich-sozialen Zusammenhang. Aber es besteht rechtlich keine Plicht zum Leben. In unserer Rechtsgemeinschaft ist der Suizid  anerkannt und erlaubt.

So bleibt es bei dem, was David Hume bereits festgehalten hat. Du wirst den Nutzen deines Weiterlebens für deine Familie, für dein Umfeld, für die Gesellschaft abzuwägen haben gegen dein persönliches Leiden in Krankheit und Alter. Wozu bist du noch nütze? Wie groß ist andererseits dein Elend?

Ein solches Abwägen erscheint uns indes zu philosophisch-abstrakt. Wir leben ja in unseren Emotionen. Emotional und voluntaristisch schwankst du zwischen Lebenslust und Lebenslast, zwischen Freude und Verdruss. Aber auch die Betrachtung deiner Lebenslust und deiner Lebenslast bedarf eines weiterführenden Horizontes, bedarf einer sachlichen und gedanklichen Begründung.

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