Alles, was lebt, folgt dem Trieb der Selbsterhaltung und der Entfaltung des eigenen Seins. Es ist der Lebensprozess des fortdauernden Fressens und Gefressen Werdens. Alles ist in Sorge um seine kleine Existenz und in der Angst um seine eigene Sicherheit. „Die Selbstliebe und der Wille, am Leben zu bleiben und sich zu bewahren, ist angeboren und ebenso der Widerwille gegen die Auflösung.“ ( Seneca Epistula 82,15)
Was die Pflanzen angeht, so ist interessant, wie selbst bei ihnen der Vitaltrieb erkennbar Furcht und Hoffnung mit sich führt. Hoffnung auf Wachstum und Licht, Furcht vor den zahlreichen Fressfeinden. Pflanzen kommunizieren bekanntlich durch Düfte miteinander, und es gibt Beispiele, dass sie durch eine gezielte Abgabe von Düften sich auch gegenseitig warnen können.
Man konnte zum Beispiel beobachten, wie eine Ansammlung gleicher Bäume sich vor dem Einbruch durch eine Elefantenherde ‚verabredete‘ – durch die gleichzeitige Absonderung übler Gerüche, die den Elefanten die Lust an diesem Futterplatz nahmen.
Wenn nun also Todesfurcht und Lebenshoffnung naturgesetzlich tief in jedes Lebewesen eingepflanzt sind, so wird dies zunächst einmal bedeuten, uns darüber klar zu werden, in welcher Weise wir als Menschen damit umgehen sollen. Im Gegensatz zu den Tieren und Pflanzen verfügen wir ja über mehrere Möglichkeiten:
– wir können Gefühle, ja auch Triebe (zeitweilig) verdrängen,
– wir können Mythen bilden, die unser Gemüt ausrichten und formen, vorhandene Gefühle werden agitiert,
– wir können auf kognitiven Wegen immerhin eine ‚weise‘ Distanz gewinnen.
Philosophisch betrachtet hat Letzteres eine orientierende Bedeutung. Gegen unsere Egotriebe und Egogefühle machen wir die Stimme der Vernunft geltend. Unser Ego mit all seinem Drum und Dran ist ja sicherlich ein hoch bedeutender Wesensteil von uns, bis zu einem gewissen Grade können wir aber Übergreifendes reflektieren und uns auf ein Selbst besinnen, das mehr als nur Ego ist.
Gerade bei der Betrachtung unseres Todes besteht eine gute Gelegenheit für diese Übung. Dieses meditare mortem, die Besinnung auf den größeren kosmischen Zusammenhang, in welchem unser kleines Leben steht, sowie die Besinnung auf unser eigenes geistiges Sein, ist dann ein längerer Prozess. Verdrängen und Tabuisieren hilft nicht, wir müssen uns mit dem Tod konfrontieren. (Siehe zum meditare mortem auch LF 2 (3).)
Wenn Dieter Birnbacher (Birnbacher, Tod, 2017) herausarbeitet, der Tod sei für uns eine Gestaltungsaufgabe geworden, so bedeutet das auch, dass wir unsere Gefühle der Hoffnung und der Furcht zu gestalten haben. Birnbacher, S. 134 ff., beschäftigt sich folgerichtig mit der Todesfurcht und auch mit der Lebenshoffnung als einer Gestaltungsaufgabe.
Wir sterben ja nicht schlicht wie die Pflanzen und Tiere. Wir Menschen sind Sinnsucher; auch unsere Gefühle suchen Sinn. Insofern sind die religiösen Angebote mehr als verständlich. Und Martin Heideggers existenzialontologisches Sinnangebot entspringt letztlich dem gleichen Bedürfnis. Die Sinnsuche in einer pluralistischen Gesellschaft von heute trifft indes auf höchst unterschiedliche Angebote. Welches dieser Angebote verschafft dir die gewünschte emotionale Distanz?
Der angesehene amerikanische Philosoph Richard Rorty war zeitlebens antireligiös. Heftig hat er den Klerikalismus in seinem Land gegeißelt. In den amerikanischen Kleinkirchen gibt es ja vielerorts jenen fanatischen Fundamentalismus in Religionsfragen. Gleichwohl musste auch Rorty anerkennen, dass Religionen in der Sinnfrage ein Vakuum füllen. Die Ausrichtung allein an der Rationalität vermag dieses Vakuum nicht auszugleichen.
Das Angebot der christlichen Religion ist aufwühlend, hoffnungsfroh und furchterregend. Hinzu kommen die klerikalen Bevormundungen. Aber sich vertrauensvoll religiös zu binden, kann Sicherheit vermitteln und eine gute geistige Heimat sein.
Als Menschen werden wir stets Ideale postulieren, wollen wir uns geistig immer auf ein Zukünftiges hin entwerfen, und wir wollen dieses Zukünftige dann auch erreichen. Das ist der Hoffnungspol, dem wir folgen.
Dieses als positiv empfundene Gefühl der Hoffnung, wird indes sogleich konterkariert von dem negativen Gefühl der Furcht. Es ist dies ja ein notwendiges Korrektiv gegenüber illusionären Versprechungen. Jede Hoffnung ist unsicher, und jede Unsicherheit erzeugt Angst. Beim Alterssuizid entsteht indes ein durchaus neues Daseinsgefühl, auf irgendeine Zukunft kommt es im Grunde nicht mehr an.
Vielleicht können robuste Naturen dieses Hin und Her der Gefühle abwehren, sie vollziehen ihren Freitod einfach so. Sie wählen sich ein äußerliches Kriterium. „Wenn ich dies oder das nicht mehr kann …“
Die anderen kommen in einen Konflikt mit ihren Egogefühlen und Egotrieben. Wenn Goethe in seinen Faust im Teil I sagen lässt, „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust“, so hat diese Klage eine irreführende und eine bedenkenswerte Seite. Natürlich haben wir keine zwei ‚Seelen‘, aber unser Ego und unser Alter Ego sind in einem ständigen Dialog miteinander. Das festzuhalten klingt ein wenig trivial, ist aber für ein bewusstes meditare mortem sehr wichtig.
In meinem Buch (Leng, Die Dimensionen der Demut, 2015) habe ich für diese zweite Instanz jenseits des Ego den Terminus, das ‚Selbst‘, gewählt. Von diesem Selbst aus kann eine Egoverminderung versucht werden. Gut erscheint mir auch der angelsächsische Ausdruck ‚charakter‘ zu sein, weil in ihm die Prozesshaftigkeit des Ganzen vielleicht deutlicher wird. Das Ego mag etwas ziemlich Festes sein, das Selbst nicht; es ist ständig im Fluss. Die Rede von einem ‚Ich‘ lassen wir dabei besser fallen.
So mag Lebenskunst auch zu einer Sterbekunst werden, ohne dass von einer „Seele“ gesprochen werden muss, die dann von diversen Autoritäten festgestellt, ausgemalt und auf eine ewige Zukunft hin entworfen wird. Es genügt und es ist schön, in dem Bewusstsein zu sterben, in einen fortwährenden Erneuerungsprozess eingefügt gewesen zu sein.
Sich auf den Weg der Selbstfindung zu begeben, ist etwas anderes als in der hergebrachten Weise sein Seelenheil zu suchen. Charles Taylor (Quellen des Selbst, 1996) hat in einer umfangreichen Studie aufgezeigt, wie tiefgreifend dieser Wandel zu einer Selbstfindung und Selbstbestimmung in der Moderne sich vollzog. Es ist der Weg in eine neue Identitätsbildung.
Furcht erzeugt Hoffnung und Hoffnung erzeugt Furcht. Wenn du deine Freitodabsicht in dir wachsen lässt, wirst du sehr wahrscheinlich deine diesbezüglichen Gefühle intensiver registrieren. Das kann auch einigen Spaß machen. Gefühle schwanken und du mit ihnen. (Vgl. LF 9)
Du kannst spüren, wie die Hoffnung im Sinne eines „eigentlich geht es doch noch …“ ansteigt, wie du von einer gewissen Lebenslust doch eingefangen wirst. Aber auch der nagende Lebensüberdruss wird sich melden. Natürlich meldet sich schließlich auch der Verstand, sollte er wenigstens.
Es ist eine komplexe Gemengelage, denn es gibt da kein wirkliches Zentrum in dir. Kants Rede von einer „Person“ war eine viel zu statisch angelegte Begrifflichkeit. Mit begrifflichen Systematiken kommen wir nicht weiter. Auch in deinem Inneren gibt es keine übergeordnete Instanz, keinen Souverän. Das Universum selbst hat ja auch kein Zentrum. Alles ist gelebte, gewollte und bewegte Vielfalt.
Unsere frühen Vorfahren lebten in und mit dieser Vielfalt mehr oder minder distanzlos. Ihr Animismus ist gegenüber den späteren theistischen Religionen indes nicht als eine primitivere Spiritualität anzusehen. Die Menschen haben sich damals – und darin waren sie auch weise – der Natur und der ‚Welt‘ nicht gegenüber gestellt. Sie haben nicht wie wir abstrahiert, sich nicht in begrifflichen Konstruktionen verfangen, sie waren noch nicht ‚Subjekt‘.
Im Freitod können wir uns allerdings beweisen, dass wir über die geistigen Möglichkeiten verfügen, ein ansonsten natürliches Fatum selbst zu gestalten. Wir sind dabei aber irgendwie gehemmt. Bei unseren anderen vielfältigen Eingriffen in natürliche Abläufe besteht diese Hemmschwelle so gut wie gar nicht mehr. Verwunderlich.
Und immer wieder stellt sich jenseits aller Gefühle und Befindlichkeiten die Sinnfrage. Macht es noch Sinn weiter zu leben oder ist es nicht sinnvoller, jetzt loszulassen? Wir müssen dabei indes nicht nach einem übergeordneten Sinn fragen, so wir dies nicht wollen.
Autonomie und Selbstbestimmung gelten natürlich nicht absolut. Als politische Tiere (so Aristoteles) sind wir eingebunden in ein Netz sozialer Pflichten. Säkulare Gegner des Freitods werden stets das ‚Gesellschaftsargument‘ ins Feld führen. Zumindest aber auf den Alterssuizid bezogen stehen ihre Argumente indes auf etwas wackeligen Füßen. Siehe auch LF 2.
Mächtigere Geschütze werden von denen aufgefahren, die um unser Seelenheil bemüht sind. Hier gilt es, uns über unsere emotionalen Einfallstore im Klaren zu sein und sehr kritisch auf die verwendete Sprache und ihre Begrifflichkeiten zu achten. Indem z. B. die christliche Religion das Grundgefühl der Hoffnung zu einer „Tugend“ erklärt hat – zu hoffen wird dir also vorgeschrieben – hat es unsere Zukunftsängste und damit auch unsere Todesangst außerordentlich verstärkt.
Unser Bedürfnis nach ‚Sinn‘ macht uns halt über alles Maß hinaus manipulierbar. Man könnte die Tiere beneiden, scheinen sie doch nicht so grundlegend emotional unzufrieden zu sein, wie wir Menschen es sind. Wir Menschen wollen ständig über uns hinaus kommen, auch über unseren Tod. Ängstlich, neugierig und illusionistisch sind wir.
Der Mythos kann uns so leicht bannen. Er bedient sich unserer eingefleischten Sehnsüchte. Nehmen wir von den vielen Gedichten und Sentenzen zur Sehnsucht und ihrem Doppelgesicht, geprägt von einem lustvollen Erwarten und eben auch von einem leidvollen Unerfüllt Sein einmal einen Ausspruch des alten Thomas von Aquin: „Des Menschen Sehnsucht geht dahin, ein Ganzes und Vollkommenes zu erkennen.“
Ein naiver Erkenntnisoptimismus. unserer Sehnsucht geschuldet und vom Mythos bedient..
Ach und dann gibt es noch dieses gesellschaftliche ‚Man‘. Im Wege der Sozialisation werden wir ins ‚Man‘ integriert. Weitverbreitet ist zum Beispiel die Auffassung, wer „Selbstmord“ begeht, ist krank. Das ‚Man‘ differenziert nicht gern.
Wer sich schlicht am ‚Man‘ orientiert, hat nach Heidegger kein Selbst im eigentlichen Sinne. „Zunächst ‚bin‘ ich nicht ‚ich‘ im Sinne des eigenen Selbst … zunächst ist das Dasein ‚Man‘ und zumeist bleibt es so.“
Heidegger wählt also die Begrifflichkeit von einem „eigenen Selbst“, und dieses Selbst kann sich nur realisieren, wenn es einen Freiraum zur Selbstbestimmung hat. So sieht es ja auch unser Grundgesetz. Der selbstbestimmte Tod macht indes für das ‚Man‘ keinen Sinn, weil der Tod keinen Sinn zu machen scheint, es sei denn, er wird verknüpft mit einer besonderen Heilslehre. Da die christliche Heilslehre den ‚Selbstmord‘ aber verdammt hat, wird es schwer mit der mit der Selbstbestimmung.
Wie gesagt, Pflanzen leben und sterben, die Tiere leben und sterben, Menschen aber wollen mehr, sie wollen ‚Sinn‘. Dieser Sinn soll dann ein hoch geistiger, ein übernatürlicher sein. Erfolgreiche Bevormunder werden uns immer erzählen, wir müssten geistig über uns hinauskommen, und ein höheres Sinnangebot halten sie auch stets bereit. Das fraglos Höhere, das unbedingt Wahre, das Absolute lässt uns vertrauen. Vertrauen zu haben ist ein schönes Gefühl. Wir wollen nicht als „Verlorene“ sterben.
Aber es gibt doch auch ein grundsätzliches Vertrauen in das Große und Ganze mit allen seinen Unzulänglichkeiten, einfach so. Es ist, wie es ist, wir können in Ruhe sterben, weil alles irgendwie in allem aufgehoben ist. Wer hat uns dieses kindliche Urvertrauen ausgetrieben? (Siehe auch LF 3 (2)
Der Kosmos bedarf der Zuschreibung einer menschlichen Sinngebung nicht. Wir können unsererseits einfach mal davon ausgehen, in der bestmöglichen aller Welten zu leben, wie dies auch der große Leibniz meinte und dies dann in einer höchst vertrackten Weise mit seiner Monadenlehre versucht hat zu begründen. Bei Leibniz und vielen anderen „Aufklärern“ zeigt sich unser anthropomorphes Ordnungsdenken überdeutlich, während später C. G. Jung dahin kam sagen, „Das Unerwartete und das Unerhörte gehört in diese Welt.“
Vertrauen in das ‚große Geheimnis‘ zu haben, dazu werden wir schließlich auch in der Bibel aufgefordert. Zum Beispiel in Römer 11,13: „Oh welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege.“
Wir stehen halt auf einem schwankendem Grund, müssen dies demütig hinnehmen und auch Vertrauen haben. So war Montaigne fasziniert von der Macht der Schicksalsgöttin Fortuna. Ihr Füllhorn und ebenso ihr Schicksalsruder bestimmen nach ihm unser Leben. Fortuna zeigt sich uns indes als launisch und unberechenbar. Der christliche Hochgott greift dabei offenbar überhaupt nicht ein. David Hume (vgl. LF 4 (2) argumentierte zu Recht, dass wir einen Gott, der durch ständige Abwesenheit glänzt, doch auch nicht fürchten müssen.
Furcht und Angst lähmen uns da, wo wir keinen Sinn sehen. Indem die Furcht uns in die Hoffnung reibt, treibt uns die Hoffnung in „ziellose Erwartungen“ (Epikur).
Akzeptieren wir, dass Leben und Tod kontingent sind. Warum muss es immer diesen einen „höheren“ Sinn geben? Natürlich wollen wir sinnvoll und nicht sinnlos leben, die Notwendigkeit einer Sinngebung liegt uns vor den Füßen. Gut so, wir versuchen unser kleines Leben sinnvoll zu gestalten, wozu eben für Philosophen auch die Gestaltung des eigenen Todes gehört.
Der besonnene Mensch „begehrt nichts zu sein, als was er ist.“(Hermann Hesse) Furcht und Hoffnung werden uns immer begleiten, aber wir können mit einer gewissen Sturheit alle abblocken, die mit Eifer versuchen diese beiden Egogefühle in uns hoch zu kochen.
Demokrit und Epikur haben das Ziel benannt, jene innere Heiterkeit, jene innere ‚Wohlgemutheit‘, die Euthymia, die uns dazu verhelfen kann, unser Leben und unseren Tod nicht so schrecklich wichtig zu nehmen.