Schon seit längerer Zeit habe ich mit meinem möglichen eigenen Tod auseinandergesetzt. Spätestens seit ich Martin Heideggers Gedanken über das „Vorlaufen zum Tode“, als die Möglichkeit zum „eigentlichen“ Sein vorzudringen, kennengelernt habe, hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Besonders hatte mich berührt, dass der Tod, philosophisch gesehen, „das Ende aller Möglichkeiten“ bedeutet. Mich in diesen Gedanken hinein zu denken macht mir zunehmend Freude. Inzwischen bin ich mit mir im Reinen: ich hatte bisher, sowohl familiär als auch beruflich, ein sehr glückliches Leben, sollte es jetzt ohne meinen eigenen Willen zu Ende sein, habe ich die Gewissheit, in dieser Hinsicht nichts verpasst zu haben. Dafür bin ich unendlich dankbar. Jetzt, nach 75 intensiv gelebten Jahren, stehen ich jeden Morgen auf und freue mich, dass ich noch da bin, diese wunderbare Welt zu schauen. Täglich wächst meine Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens, der Natur und der Tatsache, dass die Welt überhaupt da ist.
Als Konsequenz aus diesen Auseinandersetzungen habe ich nunmehr alle Vorkehrungen getroffen, die zum Ende hin notwendig werden: Ein Baum im Friedwald wurde gekauft. Jetzt weiß ich schon, wo ich einmal hingebracht werde. Das Testament wurde zusammen mit meiner Ehefrau Notariell gefertig zugleich mit einem Betreuungsvertrag und einer Patientenverfügung. Insofern – wenn es also mit der Entscheidung zum selbst herbeigeführten Bilanztod einmal doch zu spät sein könnte, ist alles bedacht.
Einige Beispiele selbst gewählten Freitods (wie etwa Gunther Sachs oder Saint-Exupery) haben in mir die Überzeugung reifen lassen, dass es Umstände gibt, die eine solche Entscheidung nachvollziehbar machen und gewissermaßen rechtfertigen. Da hat sich jemand entschieden, selbst den Zeitpunkt des Fortgehens zu bestimmen. Philosophisch gesehen ist es ja die höchste Freiheit des Menschen, sich zum eigenen Abgang entscheiden zu können, zum Freitod eben. Keinem anderen Lebewesen ist das in dieser Weise gegeben. Wir Menschen haben eben auch die Verantwortung für das eigene Leben. Bei genauerer Betrachtung wird mir die Wucht und das Ausmaß dieser Verantwortung deutlich spürbar. Ich bin verantwortlich für mein eigenes Leben, und ich kann es auch selbst beenden! Dabei spielen Fragen nach dem Motiv zunächst einmal keine Rolle. Die entscheidende Fragen sind aber: selbst wenn ich es kann, darf ich es denn? Und wer soll darüber entscheiden?
Spätestens seit Jean-Paul Sartre wissen wir, dass es außerhalb des Menschen, der „Humanitas“, keine Instanz gibt, die unser moralisches Handeln vorgeben kann, oder die wir für unser Schicksal verantwortlich machen könnten. Wir Menschen sind einzig und allein für unser Tun und lassen verantwortlich zu machen. Selbst aus religiöser Perspektive gilt ja, dass Gott uns die Freiheit dazu gegeben hat. Wohl auch als Last, die wir zu Tragen haben. Natürlich bin ich auch für das Leben und Wohlergehen der Anderen, von denen ich ja auch Abhängig bin, verantwortlich, und hier gilt auch: Du sollst nicht töten! (das heißt ja nicht, dass es in der Realität genügend Abweichungen davon gibt: Mord , Totschlag, Attentat, Krieg etc.) . Moralen dieser Art sind Soll-Bestimmungen, keine Ist-Beschreibungen. Dennoch: Mein Leben ist mein Leben, und dafür bin einzig und allein ich selbst verantwortlich. Natürlich brauche ich mein eigenes Handeln, aber auch die Unterstützung durch die Anderen, um mein Leben zu bewahren und zu beschützen. Aber, um es zu beenden, freiwillig (d.h. wenn ich es wirklich will), bedarf es ausschließlich meines eigenen Entschlusses. Ich nehme mir mit dem Freitod „alle Möglichkeiten“ in dieser Welt. Freiwillig! Weil ich es will!
Und hier merke ich: Ich kann mir das Vorstellen. Ja, bin innerlich klar: das ist so. Nur: will ich es denn wirklich? Nein! Und jetzt beginnen die Gedanken zu kreiseln. Auf jeden Fall jetzt noch nicht!. Ich lebe doch noch viel zu gerne! Ich habe Spaß am Leben, bin einigermaßen Gesund, mach viel, lerne noch viel. Ich behalte mir einen solchen Schritt vor. Für den Zeitpunkt, wenn meine Bilanz diesen Spaß, diese Gesundheit, dieses Tun und dieses Lernen für alle noch denkbare Zukunft nicht mehr zu bieten scheint.
Ob ich dann aber noch zu entscheiden in der Lage bin? Und ob ich dann noch in der Lage sein werde, über die Vorstellung hinaus tätig zu werden, um das Ende herbeizuführen? Und ob ich es dann noch wirklich will? Wie kann ich das wissen?
Für den Moment gilt: Es ist eine schöne Vorstellung , die Freiheit zum Freitod zu haben, aber:
es ist eben für mich im gegenwätigen Zeitpunkt nur eine Vorstellung!
Ein schöner ehrlicher Beitrag.
Ja, Sartre und der ganze Komplex mit der Verantwortung. Wir können uns (eigentlich) nicht davon stehlen.
Aber so ist die Lage: du weißt es, du bejahst es, du könntest es auch umsetzen. Aber ist der Wille dazu vorhanden?
Das leidige Problem der Umsetzung also. Es fängt bei den Kleinigkeiten an und beutelt uns bis hin zum Großen.
Dies, weil eine Vorstellung zunächst nicht mehr als eine Vorstellung ist (s. Hume). Der Wille aber verlangt indes deutlich mehr Futter, um eine Entscheidung herbeizuführen. Er braucht Gedanken, die sich verdichten und Vorstellungen, die sich konkretisieren. Vor allem braucht er Gefühle, die ihn motivieren. Also sterben die meisten in der Herde.
Damit abfinden müssen wir uns aber nicht. „Was wir in uns nähren, das wächst, das ist ein ewiges Naturgesetz.“ (Goethe)
Gedanken können Gefühle bearbeiten und zusammen können Gefühle und Gedanken den Willen stimulieren.
Da sind dann die folgenden Sätze aus deinem Beitrag erhellend: „Besonders hatte mich berührt, dass der Tod, philosophisch gesehen, ‚das Ende aller Möglichkeiten‘ bedeutet. Mich in diesen Gedanken hinein zu denken, macht mir zunehmend Freude.“ Da wächst also ein Gefühl heran, und es zeigt sich die Demut des Annehmens. Das geht tief rein und ist nach meinem Empfinden auch eine deutliche Annäherung an den freien Tod.
Ein weiterer Fragenkreis, der sich aus deinem Beitrag ergibt, ist das „es-geht-doch-noch-ganz-gut-Problem“. Wenn wir versuchen, die Lebenslust und den Daseinshunger mit dem Freitod zusammenzusehen, ergibt sich ein Widerspruch, der zunächst schwer aufzulösen ist. Wir sollten das geduldig vor uns herschieben.
Horst