LF 2 (9) Das Gesellschaftsargument

LF 2 (9) Das Gesellschaftsargument

Neben der theologisch-klerikalen Position zum Suizid und der Sterbehilfe sind es eben auch die säkularen Einwände gegen das selbstbestimmte Sterben, die es zu bedenken gilt. Die kirchliche Argumentation bezieht sich ja auf eine eher abgehobene, übermenschliche Ebene. Über allem stehe ein (tabuisierter) „Lebensschutz“, wie ihn der außerweltliche Gott verfügt habe. Eine Verbindung zum Gesellschaftsargument gibt es allerdings insofern, als dieser ferne Gott uns in unsrem irdischen Leben auf einen „Wachposten“ gestellt habe, auf dem wir in jedem Falle bis zu unserer Abberufung auszuhalten haben.
Die Rede vom Wachposten überschneidet sich mit dem Gesellschaftsargument. Letzteres verweist auf unsere Pflichten als Eingebundene in einen sozialen Zusammenhang. Sich diesem Gesellschaftsauftrag, diesem Lebensauftrag durch einen selbst herbeigeführten Tod zu entziehen, sei ein schwerer Bruch mit dem Sittengesetz und unserer Gesellschaftsordnung. Das hört sich schwergewichtig an, und der konkrete Lebensbezug ist ja auch klar gegeben.
Beginnen wir mit einem typischen Zitat: „Würdevolles Sterben bedarf neben einer persönlichen Auseinandersetzung vor allem einer gesellschaftlichen Haltung.“ (Dr. Anja Schneider, stellvertr. Vors. Des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes.)
Unsere Würde wird hier verstanden nicht nur als ein Individualrecht und Schutz der Persönlichkeit (vgl. GG Art. 1), sondern als eine besondere „Haltung“ der Gesellschaft gegenüber, in der wir leben. Mit „Haltung“ kann nur eine charaktermäßige Tugendhaltung gemeint sein, wohl im Sinne der Hexis bei Aristoteles. Die Würde wird zu einem Tugendauftrag. Du hast deinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen und in Würde durchzuhalten.
Würde wird hier also verstanden primär nicht in der Tradition der ehemals rebellischen Menschenrechtsbewegung, nicht im Sinne einer Emanzipation hin zu einem Selbst und seiner eigenständigen Bestimmung, sondern als eine tugendhafte Dienstbarkeit gegenüber der Gesellschaft unserer Mitmenschen bis hin zu dem am Ende unausweichlichen Tod. Neben den Würdebegriff als einem Persönlichkeits- und Schutzrecht tritt ein Würdebegriff als einem Kriterium für gute und richtiges Tun und Lassen.
Natürlich sollte ich bei allen meinen Handlungen darauf achten, Anstand und Würde zu bewahren. Zumindest bezogen auf die Familie ist dann beim Freitod eine abwägende Rücksichtnahme angebracht und lebensnah. Mit Anstand und Würde seine Pflichten der Dienstbarkeit zu tragen, darauf käme es an. Viele Todesanzeigen spiegeln dies in ihren Texten dies so ja auch wider.
Wie weit aber kann dieser Tugendansatz gedehnt werden? Lässt sich das Tabu der Selbsttötung und die heutige künstliche Lebensverlängerung damit rechtfertigen? Blicken wir kurz auf die geschichtliche Herkunft dieser Denkweise.
In unserer steinzeitlichen Frühgeschichte war der Verlust eines Horden- Mitglieds oft sehr bitter. Andererseits wurden die Alten und Schwachen einfach zurück gelassen. Im Grunde ist die Lage heute noch genauso. Welche Alten sind noch von Nutzen, und welche sind nur noch eine Last? Heute können sich indes nur die unmittelbaren Angehörigen diese Frage stellen. Die ‚Gesellschaft‘ kann dies nicht mehr.
Diese unsere durchbürokratisierte Versorgungsgesellschaft von heute ist nicht mehr in der Lage, sich diese Frage vor Augen zu führen. Sie folgt ihrer anonymisierten Eigendynamik. Und der Versorgungsapparat und die in ihm Tätigen spulen schlicht das ab, was sie abspulen können.
Eine zweite historische Wurzel der Auffassung von der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, eine Verpflichtung, die jeden Gedanken an einen Freitod ausschließen würde, ist sicherlich in der alten Symbiose von Kirche und Staat zu suchen, wie sie sich im Mittelalter herausgebildet hat. Die Kirche erklärt den ‚Selbstmord‘ zu einer Sünde gegenüber Gott und dem uns von ihm erteilten Lebensauftrag; der Staat erklärt gleichgesinnt und dementsprechend einen solchen ‚Selbstmord‘ zu einem Verbrechen, das strafrechtlich zu ahnden ist. In England war dies so bis ins 20. Jahrhundert hinein. Der Selbstmörder, die Selbstmörderin, verging sich gleichermaßen gegen Kirche und Staat.
Letztlich bleiben wir immer in der Frage: wer darf über das einzelne Leben verfügen? Die Kirche, mit Gott im Rücken, betonte und betont ihr Verfügungsrecht, aber auch der Staat sah und sieht sich als Verfügender.
Der Staat gewährt und sichert, soweit möglich, das Leben seiner Staatsangehörigen, er hat aber auch das Verfügungsrecht über eine vorzeitige Lebensbeendigung, z. B. bei Kampfhandlungen. Die Kirche betont die Verpflichtung zu einer lebenslangen Dienstbarkeit mit dem Wachpostenargument, der Staat versteht sich als der Souverän in der Frage von Leben und Tod. Er soll zwar das Einzelleben schützen (vgl. GG Art.2 und Art. 6), darf es gegeben Falls aber auch in Anspruch nehmen und verwerten.
In einer Gesellschaft, die ganz ausgerichtet ist auf ein umfassendes Funktionieren, wie unsere heutige, kommt ein Weiteres hinzu. Für diese unsere homo-faber-Gesellschaft wird der Tod zu einem Betriebsunfall. Das Ausfallrisiko wird verarbeitet mit Hilfe eines imposanten Vorsorge- Reparaturbetriebs (Sozialkassen und Gesundheitsvorsorge, Kliniken, Ärzte und Psychiater). Der Tod ist kein Schicksalsschlag mehr, er ist für den Reparaturbetrieb eine Beleidigung.
Als Staats- und Betriebsangehörige dürfen wir zwar durchaus eine eigene Meinung und auch einige Sonderinteressen haben, in der Suizidfrage gelte aber die Selbstbestimmung nicht. Eine solche Sichtweise lässt sich bis hin zu Aristoteles zurückführen. Nach Aristoteles hat der Mensch, insofern er sich als eine eigenständige Person versteht, durchaus das Recht zu einem Suizid. Weil er aber keine isolierte Einzelperson ist, sondern ein gesellschaftlich gebundenes Wesen, hat er dieses Recht dann wiederum nicht. Seine gesellschaftliche Verpflichtung verbietet es, sich dem Gemeinwesen durch einen Selbstmord zu entziehen, sie stehe über der Freiheit des Einzelnen.
Immanuel Kant hat diese Denkweise noch weiter hochgeschraubt. Wer Selbstmord begeht, folgt allein seiner egoistischen Neigung. Über jeder unserer Neigungen steht nach Kant aber ganz normativ-grundsätzlich unsere allgemeine gesellschaftliche Pflicht. Dies sei zugleich auch eine Pflicht gegenüber uns selbst als einer gesellschaftlich gebundenen Person. Diese „Person“, die der Mensch wesenhaft sei, könne nur eine verpflichtete Person sein.
So wird der Freitod dann zu einer „Verletzung seiner Pflicht gegen sich selbst.“ Man mag diese begriffsrationalistische Deontologie, diese Mischung aus einer Tugend- und einer Pflichtethik, bewundern oder auch nicht. Vgl. zu Kant auch LF 2 (7).
Lebensnäher philosophierte David Hume, vgl. LF 4 (2) und LF 2 (2). Hume hielt wenig von nur kognitiven Prinzipien und dogmatischen Vorgaben. Er war ein Vorläufer des Pragmatismus und hatte seinen Blick vor allem und vorab auf unsere Gefühle gerichtet.
Die Verpflichtung auf ein unbedingtes Weiterleben Müssen empfand Hume als grausam. Das ganze „Gesellschaftsargument“, bezogen auf die Suizid-Frage, hielt er für abwegig und realitätsfern.
Aber Ängste und Bedenken sind in uns stets vorhanden, und das Gesellschaftsargument kann diese durchaus verstärken. Zum Beispiel bei dem sehr angesehenen Gegenwartsphilosophen Robert Spaemann. Ihn sollten wir doch en passant aufgreifen, weil er so drastisch von solcherlei Ängsten besetzt ist.
Spaemann ängstigt vor allem das auch ansonsten viel beschworene „Dammbruchargument“. Unsere Gesellschaft werde großen Schaden erleiden, wenn sie die Selbsttötung auch nur ansatzweise zulässt. Am Ende – so die Befürchtung – wird eine Lawine von Suiziden unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern.
Etwas vertrackt formuliert das Spaemann so: „Dass der Selbstmord moralisch geächtet bleibt, ist für die menschliche Gemeinschaft von größter Wichtigkeit. Denn wenn es eine sozial akzeptierte und institutionell ausgestattete Möglichkeit ist, wird es unmöglich sein zu verhindern, dass daraus eine Pflicht wird, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, um den anderen nicht zur Last zu fallen.“ (Siehe Spaemann in www.zeit.de/2015/07/Sterbehilfe)
Noch dräuender und prägnanter hatte es Ludwig Wittgenstein formuliert. „Wenn der Selbstmord erlaubt ist, ist alles erlaubt.“ Eine solche Drohung ist natürlich blanker Unsinn.
Robert Spaemann malt sich nun eine institutionalisierte Kette von „Totenhäusern“ aus, in denen dann die Ärzte nur noch die eine Frage stellen: „Ist es ihr freier Wille, getötet zu werden?“ Dies gilt ihm als eine Horrorvorstellung. Der moralische und der rechtliche (wieso?) Zusammenbruch der Gesellschaft ist dann nach Spaemann vollzogen. Für ihn fügt jeder mors voluntari dem Gemeinwesen einen irreversiblen Schaden zu.
Diese Betrachtungsweise lässt sich in einer allerdings auch umkehren, indem man die Befreiung von eben dieser Gesellschaft und ihren Lebenszwängen zu seinem obersten Ziel erklärt. Er/sie sucht dann den Abschied von diesem Zwangssystem, weil es ihm/ihr unerträglich wurde.
Jean Améry (s. u. a. www.spiegel.de) hat wortgewaltig diese existenzialistisch-heroische Position vertreten. Auch Seneca (vgl LF 6 (2) ) hatte ja betont, der/die Einzelne dürfe mit dem mors voluntari sich von einer ungerechten, ihn bedrückenden Gesellschaft befreien.
Améry: „Ich glaube eben auch, dass der Freitod als Akt der Befreiung unabhängig ist von Gesellschaftsformen. Ich kann mir keine Gesellschaftsform denken, die nicht Zwang im Sinne der Lebenslogik bedeuten würde. Was will denn der Suizidär? Er will nun einmal keine Ziele mehr haben, außer dem einen, dieser Bekräftigung des (seines) Freiheitsakts.“
Gerade wer die beiden Bücher von Amèry hierzu liest (Über das Altern, Revolte und Resignation, sowie, Hand an sich legen, beide verlegt bei Klett-Cotta) sieht das Dammbruchargument schwinden. Freitod-Heroen wie Jean Améry mit ihren anarchistisch-existenzialistischen Motiven werden immer eine sehr, sehr kleine Minderheit bleiben. Es ist eben dann doch nicht so leicht, sich von der Herde zu trennen, und Améry tat sich mit seinem Suizid auch entsprechende schwer.
Ohnehin, also ganz ohne Helden, lässt sich das Dammbruchargument mit Zahlen keineswegs belegen. Die Zahl derer, für die in der BRD der § 217 gemacht wurde, also die möglichen ‚Kunden‘ von Dignitas, Arnold, Kusch, Puppe …, beträgt geschätzt nach Puppe ohnehin nur maximal 1000 oder 2000, eine verschwindend geringe Zahl bei einer Bevölkerung von 80 Millionen.
In den Ländern, in denen die Sterbehilfe liberalisiert wurde, Belgien, Holland u.a., ist ein solcher Dammbruch ja auch keineswegs eingetreten. Die Zahlen zur Sterbehilfe und zum Suizid blieben deutlich unter einem Prozent. Die allermeisten, die sich eine Sterbehilfe wünschen, stehen zudem vor einem Verzweiflungssuizid, weil ihnen ihre körperliche Verfassung im Grunde ein Weiterleben in Würde nicht mehr ermöglicht. Freitod-Heroen sind sie kaum.
Ein undifferenziertes Beharren auf einer Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht ist unangemessen und rechtlich so nicht gegeben. Stets lebt der Mensch als Individuum zugleich in sozialen Zusammenhängen, die z. B. Viktor Niculescu, (Selbstbestimmtes Sterben, 2019) ganz aus dem Blick verliert. Er sieht sich allerdings im Gegensatz zu Améry auch nicht als ein Rebell gegen die Gesellschaft.
Summa sumarum ist es eben so, wie es in unserem Grundgesetz auch zum Ausdruck kommt. Es ist das Spannungsverhältnis zwischen Individualrechten als gegebenen und legitimen Schutzrechten gegenüber der Allgemeinheit und unserer moralischen, sozialen und rechtlichen Obliegenheit gegenüber den unmittelbaren Angehörigen und dem Gemeinwohl insgesamt. Zwischen diesen beiden Polen gilt es abzuwägen und zwar immer im konkreten Einzelfall.
Die Selbsttötung kann eine egozentrische Flucht aus der sozialen Verantwortung sein. Mit zunehmenden Alter aber vermindert sich diese. Wo erfülle ich denn trotz meiner Einschränkungen und diversen Leiden noch eine soziale Aufgabe? Oder bin ich nur noch eine Last? Ein Opfergang ist der Suizid wie jeder andere Tod eben allemal; für einen selbst und für das ganze soziale Umfeld.
Bleibt die Frage, wer soll denn letztendlich entscheiden und nach welchen Gesichtspunkten? Die Antwort kann nur lauten: allein der Suizident selbst. Sie/er wird sich mit sich beraten, auch beraten lassen, sich umfassend informieren etc.
In der allgemeinen Diskussion zweigt sich hier am Ende nur ein fortwährend herumgereichtes Kriterium: es könne angemessen sein, das Leben zu beenden, wenn es „unerträglich“ geworden ist. Was aber kann „unerträglich“ bedeuten? Können Ärzte, Psychiater, oder gar klerikal ausgerichtete Berater hierüber wirklich befinden? Thomas Nagel und sein Fledermaus-Argument kann einem dabei in den Sinn kommen. Auch der/die Betroffene kann am Ende nur eine gefühlsmäßige Entscheidung treffen.
Wie sehr eine Gesellschaft die Suizide, wie sie in ihr vorkommen, auch ganz säkular als eine Beleidigung auffassen kann, zeigte sich in der damaligen DDR. Moralisch und religiös wurde der Suizid als solcher nicht bewertet. Gleichwohl wurde das ‚Selbstmörder‘-Tabu ganz traditionell aufrechterhalten. Die Selbstmörder wurden als Kritiker am System und seinem gloriosen Zukunftsentwurf eingestuft. „Das seit Jahrhunderten geltende Suizidtabu wurde in der DDR politisch überformt.“ (Anne Waak, Der freie Tod .. 2016)
Betrachten können wir das alles auch unter dem Gesichtspunkt der Demut. (H. O. Leng; Die Dimensionen der Demut, 2015) Es gibt eine Demut des Dienens. Platon hat sie wohl als einer der ersten hochgehalten. Es gibt ebenso auch eine Demut der Unterwerfung und zwar im religiösen evtl. auch ideologischen Bereich. Nur fragwürdige Egozentriker werden die Demut des Dienens für sich ablehnen. Fragwürdig bleibt aber auch die konkrete Handlungsrelevanz einer Demut des Unterwerfens mit ihrer religiösen Wurzel. Werden Freitod wählt, wird zwischen seinen eigenen Gründen und seiner sozialen Bindung,  insoweit eine solche noch besteht, abgewogen haben.

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