LF 3 (3) Das wohl älteste Zeugnis der Suizidliteratur

– stammt aus dem Mittleren Reich im alten Ägypten. Es ist der Streit eines Lebensmüden mit seiner ‚Seele‘. Was hierbei unter der Seele verstanden wird, ist für uns Heutige etwas fremdartig, darauf kommt es aber hier nicht an. Die Art, wie das Grundthema aufgegriffen wird, ist bis heute klassisch. Der Lebensmüde führt in seinem Inneren ein kontroverses Zwiegespräch.
Der eine Teil in ihm will sterben, der andere Teil will ihn davon zurückhalten. Der des Lebens überdrüssige Teil hat keine Mühe, darauf zu verweisen, wie schlecht die hiesige Welt ist und wie schlecht die Menschen auf ihr sind. So heißt es:
„…die Sanftmut ist zugrunde gegangen,
die Frechheit ist zu allen Leuten gekommen;
…vernachlässigt wird das Gute an allen Orten;
…es gibt keine Gerechten,
…die Erde ist den Übeltätern überlassen;
…es gibt keine Zufriedenen,
…ich bin mit Elend überladen und ermangele eines Vertrauten.“
Kurzum, dieses Leben hier ist nicht lebenswert. Offenbar handelt es sich um einen bereits recht alten Mann, „der Sieche ist der (mir) Vertraute.“
Die „Seele“ aber will ihn, der diese Welt verlassen will, zurück halten. Sie steht für den Lebenstrieb und die Lebenslust. Manches mag vielleicht beklagenswert erscheinen, man dürfe aber nicht so negativ gestimmt sein und solle das Leben, so wie es ist, ertragen. Hierbei zitiert die „Seele“ einen Trinkspruch, der bei den damaligen Gelagen wohl in Mode war: „Folge dem frohen Tag und vergiss die Sorgen.“
Was der Lebensmüde vorgebracht hat, wird also nicht akzeptiert. Der Mensch habe sein sicher auch leidvolles Leben doch zu ertragen, christlich gesprochen, er habe auszuharren.
Hinzu kommt ein Weiteres. Vor dem ersehnten Eintritt in das Totenreich, das im alten Ägypten als das Reich des Osiris ein sehr angenehmes war, musste man vor dem furchterregenden Totengericht bestehen. Ebenso ja auch im Christentum, Jesu: „Fürchtet euch vor dem, der nicht nur töten kann, sondern die Macht hat, euch auch noch in die Hölle (die gehenna) zu werfen.“ (Lukas 12,5 ) Auch im alten Ägypten verfehlte die Drohung mit dem Totengericht ihre Wirkung nicht.
Dieser des Lebens überdrüssige alte Ägypter will sich gleichwohl mit seinem mors voluntari von der diesseitigen Welt befreien, in der er sich sinnlos gefangen sieht. Nicht sein Tod sei das Übel, sondern gefangen zu sein in einer üblen Welt. Ein Motiv, das später in der Stoa eine große Rolle spielt.
„Der Tod steht heute vor mir,
wie wenn jemand sein Haus wiederzusehen wünscht,
nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat.“
Und er malt sich aus, wie schön der Tod doch sein kann. Ja, der Tod ist auch schön.
„Der Tod steht heute vor mir,
wie wenn ein Kranker gesund wird,
wie wenn man nach der Krankheit ausgeht.
Der Tod steht heute vor mir,
wie der Geruch der Lotusblumen,
wie wenn man auf dem Ufer der Trunkenheit sitzt.“
(Gemeint ist ein Gelage.)
Die gängige Rede, das Leben sei in jedem Fall lebenswert, und der Tod sei das große zu fürchtende Übel, wird also umgekehrt. Übel ist der Zwang, leben zu müssen. Unsere Geburt hat uns ja ungefragt in dieses Leben hineingeworfen. Nach einem gelebten Leben aber können wir frei entscheiden, was denn nun besser für uns ist, das Weiterleben oder die Zuflucht zu Osiris.
„Der Tod steht heute vor mir,
wie der Geruch der Myrrhen,
wie wenn man am windigen Tage unter dem Segel sitzt.“
(Also nicht rudern muss.)
Quelle: Adolf Erman, Die Literatur der Ägypter, Leipzig 1923, reprografischer Nachdruck 1971.

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